Sind Chart-Platzierungen noch eine authentische Repräsentation der Popwelt? Müssen Alben sterben, um Platz für eine Single-Industrie freizumachen? Geben TikTok-Trends jetzt in Sachen Musikfindung den Ton an? Wieso ist Popkultur heute so viel komplizierter als früher?
Die Indie-Gruppe Boygenius hat Ende März ihr neues Album The Record rausgebracht: Es ist nun Platz eins in den UK-Charts – trotzdem kennen es nicht viele, trotzdem kommt die Band nicht in der breiten Masse an, sondern bleibt in ihrer eigenen musikalischen Bubble. Wie kann es sein, dass eine Indie-Band an der Spitze der Charts steht und nur einige davon wissen? Umgekehrt: Taylor Swift bricht Chart-Rekorde sobald sie ein- und ausatmet, und sie ist weltberühmt. Wo liegt der Unterschied? Was ist heute Pop? Was nicht?
„Da fehlt noch Salz“
In den letzten Jahren hat sich durch das Internet der Prozess, wie man Musik, Film und generell popkulturelle Geschehnisse und Geschmäcker findet, so sehr verkürzt, dass man in Sekundenschnelle alles selbst herausfinden kann. Man muss nicht mehr eine Woche auf die Kritik im Musikmagazin warten und dann ernsthaft überlegen, ob man sich die CD oder Platte kaufen wird – man kann einfach ins Internet und sich selbst einen Eindruck verschaffen, ohne große Hindernisse.
Für manche ist Boygenius nicht „indie“ genug, und andere kennen, trotz ihrer Omnipräsenz, nicht mehr als einen Song von Taylor Swift. Das ist vor allem Resultat der altbekannten Timeline, die unsere kulturelle Identität maßgeblich prägt. Der Zugang, eben die Timeline, auf der man alles finden kann, ist algorithmisch bedingt, individuell an den Nutzer angepasst – so wird das vage Konzept der Popkultur für jeden etwas anderes bzw. wird es von jedem anders wahrgenommen.
Albumsterben?
In Artikeln zu TikTok, und wie es die Musikindustrie verändert, liest man oft Dinge wie: „Es muss verzerrt und lärmig sein, damit sie auf Handylautsprechern überhaupt zu hören sind.“ oder „Die nur 15-sekündigen Videos benötigen eine spezielle Dramaturgie – zum Beispiel ein 11-sekündiges Intro mit anschließendem 4-sekündigen Höhepunkt.“ Das macht Angst; ist Musik jetzt komplett verloren? Wegen einer App?
Nein, ist sie nicht. Das Verlangen nach Kunst, die einen etwas fühlen lässt, ist präsent und wird bleiben. Man hört heute viele klagende Bemerkungen wie „Werden jetzt alle Songs nur 30 Sekunden lang sein?“, oder irgendwas über das Sterben des Albums. Das ist alles Schwachsinn. Wer Fan ist, wird Fan bleiben und sich nicht mit einem 30 Sekunden-Musikausschnitt zufrieden geben – und wer Künstler ist, wird Künstler bleiben und versuchen, Menschen emotional zu erreichen. Da kann TikTok so viele Trends produzieren, wie es mag.
Kein Platz mehr für Klischees
Heutige Internet-Popkultur ist sehr self-aware, was veraltete Klischees unattraktiv wirken lässt, sie weiß selbst, dass sie existiert und macht sich (dem Zeitgeist entsprechend) auch über sich selbst lustig. Das sieht man besonders in den Reaktionen auf den katastrophal-schockierenden Taylor Swift/Joe Alwyn-Breakup.
Popkultur bezieht sich auf sich selbst und ihre (oft auch problematische) Vergangenheit – Stichwort: jedes Klatschblattmagazincover der 2000er die Frauen für ihre drei Beinhaare bodyshamen – heute ist Popkultur meta-referenziell und besteht nicht mehr aus glatt-gebügelten Interviews oder Magazincovers, das wäre heute eher langweilig. Die Offensichtlichkeit von Dingen ist langweilig, wir suchen stattdessen nach niche Nuancen. Gegebenheiten werden oft nicht mit eigenen Worten beschrieben, sondern mit bereits existierenden Referenzen, die wiederum andere (pop)kulturelle Ereignisse beschreiben:
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Pop ist nichts Peinliches mehr für Leute, die ihn seit Jahrzehnten als ein Ventil für hysterische Teenies gesehen haben – heute ist er für jeden etwas anderes. Natürlich gibt es noch große, weltberühmte Popstars und die passenden Fans – sie stehen aber nicht mehr für ein Ideal einer populären Kultur oder einen Zeitgeist, dem der Rest gerecht werden muss. Kreativ gesehen, muss man es niemandem recht machen – jeder kann aus seinem Schlafzimmer heraus Musik machen, sie veröffentlichen und hoffen, dass irgendein Algorithmus sie an die richtigen Leute weiterleitet. Jeder kann mehr oder weniger machen, was er oder sie will, und damit Menschen erreichen. Billie Eilish ist für die „Schlafzimmermusikerin zu weltberühmter Popstar-Pipeline“ ein Paradebeispiel.
People like people
Das Ego scheint, dank der meta-referenziellen-selbstkritischen Tendenz der Zeit, aus (vor allem) der Musik verschwunden zu sein. Man hört alles, nicht nur seine drei Lieblingsbands – ein facettenreicher Musikgeschmack ist heute das Normalste der Welt: In der einen Sekunde hört man Dylan singen „How many roads must a man walk down, before you call him a man?“ und in der nächsten nickt man zu Drake „Is it the strength of your feelings overthrowing your pain?“.
Wenn man der Musik glaubt, wenn sie sich echt anfühlt, hört man sie – man glaubt dem Menschen dahinter, nicht der Idee des Genres, das er repräsentiert, oder irgendeinem TikTok-Tanz; Menschen mögen Menschen, nicht Ideen.
Titelbild: kelvinmoquete/unsplash.com