Manche Menschen können sich eine Beziehung zu zweit nicht vorstellen, sie schenken ihr Herz mehr als einer Person. Polyamorie ist mittlerweile gar nicht mehr so selten. Doch was ist dieses Liebeskonzept eigentlich und wie sieht es in der Praxis aus? Drei Menschen erzählen, was Polyamorie für sie bedeutet und was diese Art der Beziehung für sie ausmacht.
Emily*, 27, ist seit mittlerweile einem Jahr in einer polyamoren Beziehung, davor lebte sie mit ihrem Freund bereits fünf Jahre monogam. Dann merkte sie, es muss sich etwas ändern. In dieser Form hat sie ihre Beziehung einfach nicht mehr ganz erfüllt. Ohne ihren Freund missen zu wollen, merkte sie, wie sie großes Interesse und auch Gefühle zu mehreren Personen aufbauen kann.
„Mir war wichtig, dass wir uns als Paar damit beschäftigen und nicht einfach weiter machen wie bisher.“ Nach zahlreichen Büchern, Podcasts und Unterhaltungen mit Menschen, die bereits ihre Erfahrungen mit Polyamorie gemacht haben, wurde sie immer sicherer, dass es auch für sie funktionieren kann.
Ihr Freund war anfangs nicht allzu angetan von dieser Idee – dieser Polyamorie, schlechte Erfahrungen in vergangenen Beziehungen haben ihn gebrandmarkt. Sie sprechen viel darüber, wie diese Beziehungsform für sie aussehen kann. Er wird offener, ist nicht mehr ganz so abgeschreckt. Dann lernt er auch jemanden kennen, den er sehr mag und sie entscheiden sich, es zu probieren.
Was ist diese Polyamorie eigentlich?
Ähnlich wie Emilys Freund geht es vielen Menschen. Zu Polyamorie scheint gefühlt jede*r eine Meinung zu haben. Wissen, worum es dabei wirklich geht, tun die wenigsten. Stattdessen existieren eine Menge Vorurteile. Spoiler: Dass es hierbei nur um Sex geht, ist ein Trugschluss! Aber nun nochmal ganz von vorn, bevor es ans Eingemachte geht.
Die Basics: Was bedeutet Polyamorie eigentlich? Die Worte, aus denen sich dieses Konzept zusammensetzt, verraten nämlich schon viel über seinen Kern. Es wird gebildet aus dem griechischen Wort „polys“ (viele, mehrere) und dem lateinischen Wort „amor“ (Liebe). Also: viele/mehrere lieben. Und genau darum geht es! Eine Beziehungsform, die es den Beteiligten ermöglicht, tiefe Bindungen mit mehr als einer Person einzugehen. Mehrfachbeziehungen sind möglich. Wichtig dabei: Diese Beziehungen entwickeln sich im Einvernehmen aller Beteiligten und es wird ein transparentes und vertrauensvolles Miteinander angestrebt. Also keine sneaky Affären! Ganz im Gegenteil: Vertrauen, Respekt und Kommunikation sind die wichtigsten Komponenten der Polyamorie. Es wird vorab geklärt, welche Dinge okay sind und welche nicht. So wird ein Raum geschaffen, in dem sich die darin Eingebundenen frei bewegen können, ohne Zwang und ohne Geheimnisse.
Ein schlechter Ruf
Mara*, 25, kennt die Vorurteile, die mit diesem Lebensstil einhergehen nur zu gut. „Man muss die Beziehung vor anderen schon immer wieder verteidigen, bestätigen, dass sie genauso valide und liebevoll und so weiter ist“, erzählt sie. Was außerhalb der eigenen Vorstellungskraft liegt, ist für viele oft nicht umsetzbar. Ganz nach dem Motto: Kann ich mir nicht vorstellen, funktioniert also nicht. Wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der die Liebe zu zweit noch die gängigste Form einer Beziehung ist. Das Ideal ist immer noch die Monogamie, alles, was sich abseits dessen abspielt, wird als nicht normal betrachtet.
Für Mara, die zuvor ebenfalls eine langjährige monogame Beziehung führte, war die Entscheidung für die Polyamorie ein wichtiger Schritt in ihrer Partnerschaft. Ihr Freund lebt in Brasilien, die Fernbeziehung schlaucht, zieht Energie, die Polyamorie war eine Möglichkeit damit umzugehen. Interessiert habe sie sich auch schon vor ihrer Beziehung dafür, außerdem erlebte sie hautnah, dass es funktionieren kann. Ihre große Schwester führt schon seit einiger Zeit eine Poly-Beziehung. Sie hat einen Mann, ist verheiratet und hat außerdem noch einen Freund. Sie planen langfristig und gemeinsam – Familiengründung inklusive. Das empfindet Mara als großen Vorteil: „Sie lebt mir halt vor, dass es geht, das gibt mir auch eine Form von Sicherheit!“
„Wir führen schon seit über zwei Jahren eine Fernbeziehung und ich war an einem Punkt, wo ich gemerkt habe, ich habe Bedürfnisse und bin immer weniger bereit, diese zu ignorieren.“
Im Gegensatz zu einer offenen Beziehung, in der sich Partner*innen dazu entscheiden, sexuelle Bedürfnisse mit anderen ausleben zu können, konzentriert sich die Polyamorie nicht nur rein auf körperliche Aspekte und Neigungen, sondern auf tiefe emotionale Bindungen. Eine offene Beziehung kann aber ein erster Schritt sein. Auch Mara und ihr Freund wollten sich erst langsam herantasten. Dann ging aber alles plötzlich ganz schnell. Ihr Partner lernt eine Frau kennen, für die er mehr empfindet als nur sexuelle Anziehung. Nach kurzer Schockphase entscheiden sie sich dafür, gemeinsam weiterzugehen. „Es war dann halt klar, okay, dann sind wir jetzt nicht mehr nur offen, weil es eben nicht mehr nur um Sex oder Schmusen auf Partys geht, sondern offensichtlich eine emotionale Bindung eine große Rolle spielt, das wollte ich ihm nicht nehmen.“
Trotzdem verliert die (Erst-)Beziehung nicht ihren Stellenwert, nur weil eine weitere Person (oder mehrere) dazukommen. Sie selbst datet auch gelegentlich, hat aber momentan keine*n weiteren festen Partner*in, das kann sich aber jederzeit ändern. Wie viele Paare, die zuvor in einer monogamen Beziehung gelebt haben und dann eine polyamore Partnerschaft eingehen, sehen sich Mara und ihr Freund (momentan) als Primärpartner*innen füreinander. Das heißt, ihrer Polyamorie liegt ein hierarchisches Grundgerüst zugrunde. Dabei geht es um eine bestimmte Aufteilung von emotionalen Ressourcen und Zeit, die investiert wird.
Die Formen der Polyamorie sind jedoch vielfältig. Wie viele Personen (wann) beteiligt sind, ob es wie bei Mara Hauptpartnerschaften gibt, oder ob es mehrere gleichwertige Verbindungen sind – wie das Ganze in der Praxis aussieht, das entscheidet jede*r selbst.
Der Wunsch nach Anerkennung
Den Stempel, die Polyamorie wäre nur ein Freifahrtschein für offenes Fremdgehen oder Affären, verdient sie definitiv nicht. Hier spielen Unwissenheit, Vorurteile und auch die Sozialisierung eine große Rolle.
Die Polyamorie fordert Akzeptanz, so wie sie auch der Monogamie zuteil wird. Für viele ist dieses Beziehungskonzept jedoch schwer greifbar, wird nicht als gleichwertige Paarbeziehung angesehen. Für Matteo*, 26, ist seine Poly-Beziehung eine echte Partnerschaft und nicht nur eine Phase, in der er sich kurz mal ausleben kann. Er lernt Lars auf einer Party kennen, sie schlafen miteinander. Was als unverbindlicher Rebound beginnt, daraus entsteht schnell mehr. Beide verbringen viel Zeit miteinander, lernen sich kennen, Gefühle entstehen. Aber: Lars ist bereits in einer Beziehung mit Noah. Sie leben schon länger in einer Poly-Partnerschaft.
Wie kann das funktionieren, wenn man in eine schon gefestigte Partnerschaft erst hinzukommt? Der Neuling zu sein, muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Für Matteo war es genau das Richtige: „Damals wäre ich nicht bereit gewesen mit Lars eine monogame Beziehung einzugehen, da ich eine sehr harte Trennung hinter mir hatte. Ich bin sehr zufrieden mit der Menge an Aufmerksamkeit, die ich momentan bekomme und die ich geben kann.“ Gleichzeitig sei es für ihn auch okay, dass Lars eben noch eine andere feste Partnerschaft führt: „Dadurch, dass ich ihn kennengelernt habe, als er schon in einer Beziehung war, habe ich gar keine Eifersuchtsgefühle, wenn die beiden etwas miteinander unternehmen. Womit ich mir schwer tue, ist, wenn er neben Noah und mir noch andere Menschen trifft.“ In solchen Momenten versuchen sie ehrlich über ihre Empfindungen zu sprechen, Abmachungen zu treffen, was geht und was nicht: „Die Kommunikation muss halt stimmen und wir erzählen uns davon, wenn wir andere Personen treffen.“
„Manchmal habe ich vielleicht gar nicht das Bedürfnis, so viel Zeit zu zweit zu verbringen und auf so viel Nähe, dann tut es mir gut zu wissen, dass es da noch eine andere Person für ihn gibt, die wichtig ist und ihm diese Dinge geben kann.“
Große und kleine Hürden
Eifersucht spielt natürlich – wie in jeder anderen Beziehung auch – eine Rolle. Wenn Emily von ihrer Polyamorie erzählt, merkt man, wie wichtig ihr das Thema ist, wie sehr es ihr am Herzen liegt, aber auch wie schwierig es eben manchmal sein kann. Besonders wenn man das Gefühl hat, der/die Partner*in schafft nun neue Erinnerungen, mit einer anderen Person. Emilys Freund hat neben ihr noch eine andere Partnerin, sie sehen sich häufig, haben die Möglichkeit viel zu unternehmen. „Es war für mich sehr schwierig, damit umzugehen, dass wir eine Fernbeziehung führen und die beiden in einer Stadt wohnen und sich spontan sehen können. Ich habe mich auf einen Schlag total distanziert von ihm gefühlt!“ Für sie seien solche Momente aber kein Ausschlusskriterium oder Grund, die Polyamorie zu beenden. Sie steht dahinter, auch wenn es ihr manchmal schwerfällt. Sie sieht in solchen Momenten auch das Positive: „Ich hatte dann zwischendurch aber auch wieder Erfolgserlebnisse, also dass ich es genossen habe, dass er jetzt noch eine andere Person hat, weil ich mich damit dann auch freier gefühlt habe.“ Emily empfindet es als Erleichterung, dass sie für ihren Partner nicht die einzige Person ist, der er sich anvertrauen kann. Wenn sie einmal nicht die Kapazitäten hat, vollkommen für ihn da zu sein, oder die Erwartungshaltungen unterschiedliche sind. Es tut ihr gut, dass nicht der gesamte Fokus auf sie gerichtet ist.
Fakt ist: Eifersucht kommt in jeder Liebesbeziehung vor. Hier gilt eben auch wieder: Communication is key! Woher kommt die Eifersucht? Worin liegen ihre konkreten Auslöser? Das sieht auch Matteo so. Selbst wenn man die Eifersucht der anderen Person vielleicht nicht immer nachvollziehen kann, sollte man versuchen, den anderen zu verstehen: „Ich finde es trotzdem wichtig, dass wir auch über Eifersucht sprechen, auch wenn sie nicht berechtigt wirkt. Man muss eben zuhören. Geht es um eine Unsicherheit oder Angst, also was steckt dahinter?“
Eifersucht muss auch nicht immer gleich etwas Schlechtes bedeuten, sondern sie kann auch Möglichkeiten offenlegen, an sich selbst und an der Beziehung zu arbeiten.
„Wir versuchen uns nicht gegenseitig einzuschränken, dadurch kann ich auf bestimmte Art viel mehr ich selbst sein und versuche nicht so sehr ein gewisses Bild aufrechtzuerhalten.“
Großes Potenzial
Der Schritt zur Polyamorie erfordert Mut. Mut, sich der gesellschaftlichen Erwartung zu entziehen und auch Mut, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Mit dem eigenen Selbstwert, seinen Unsicherheiten und seinen Ängsten. Was will man? Wie sieht die persönliche Vorstellung von einer Beziehung aus? Man muss viel an sich arbeiten, über die eigenen Emotionen und Bedürfnisse sprechen. Puh, gar nicht so easy, oder? Tja, Beziehungen erfordern eben immer ein gewisses Maß an Arbeit – auch an sich selbst.
Das sieht auch Emily so, es sind viele Dinge hochgekommen, mit denen sie zuvor nicht gerechnet hat. „Also wenn du sowas anfängst, musst du dich auf einmal mit so viel auseinandersetzen, aus der eigenen Kindheit, mit irgendwelchen Ängsten, mit dem eigenen Körper und womit man sich wohlfühlt. Gleichzeitig ist es auch so inspirierend und auch lustig.“ Aber es liegt auf der Hand, dass der Schritt von einer monogamen in eine Poly-Beziehung viel zwischen zwei Menschen ändert. Die Dynamik wandelt sich, es treten neue, unerwartete Herausforderungen auf. Ehrliche Kommunikation und die Bereitschaft einander verstehen zu wollen, sind das A und O. Aber wenn das besteht, dann kann etwas Tolles entstehen.
Das Offenlegen der eigenen Bedürfnisse und Wünsche: So ein alternatives Beziehungskonzept kann auch große Chancen bieten. Für Matteo ist die Polyamorie das, was er gerade braucht und die Möglichkeit, zu erkennen, was er wirklich will: „Vieles geht im alltäglichen Chaos einfach unter, die Beziehung hilft mir, meine Bedürfnisse leichter umzusetzen und mir darüber überhaupt erstmal klar zu werden. Also das sehe ich schon als Vorteil. Ich werde viel mehr mit mir selbst konfrontiert.“ Gleichzeitig bietet es auch ein großes Maß an Freiheit, dadurch dass man auch andere Menschen kennenlernen kann, wenn einem danach ist, ohne dies verheimlichen zu müssen: „Wir versuchen, uns nicht gegenseitig einzuschränken, dadurch kann ich auf bestimmte Art viel mehr ich selbst sein und versuche nicht so sehr ein gewisses Bild aufrechtzuerhalten.“
Polyamorie bedeutet letztlich eben auch Verbindlichkeit. Diese ist in diesem Fall aber nicht als geschlossenes Konstrukt zu verstehen. Sie ist offen gestaltet, Verbindungen mit anderen Menschen sind möglich. Weil Liebe für diese Menschen eben nicht exklusiv ist.
*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.
Ab jetzt sind wir wieder jeden Monat für euch da und gehen all den Themen rund um Sexualität, Partnerschaft und Co. auf den Grund. Die nächste Kolumne erscheint am 10. Juli.
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Titelbild: ©Christopher Beloch
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