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Tyll tut #12 – Rennrad fahren

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In dieser Kolumne wird unser Redakteur Tyll Leyh erwachsen. Das ist zumindest der Plan. Er probiert Hobbys, scheitert und liefert dabei Einblicke in sein Seelenleben. Diese Woche widmet er sich der wichtigsten Erfindung des Menschen, noch vor Feuer, Holzbeil und Kapitalismus: dem Rad.

Soll ich drüber fahren, oder soll ich stehen bleiben? Ich mein, wenn ich nach links schaue, kommt niemand und wenn ich nach rechts blicke auch nicht. Außerdem kenne ich die Phasen. Vor allem meine Phasen und wenn ich noch länger warten muss, werde ich sehr ungeduldig. Erst recht bei so wenig Verkehr. Überall ist ungenutzter Raum und ich stehe, während deutlich wird, dass selbst mit 1,5m Abstand noch viele Fahrräder auf einen Parkplatz passen würden. Wer braucht schon Autos. 

Ich halte es nicht mehr aus zu stehen, also fahre ich genau dann los, wenn es grün und eine Sache deutlich wird, die beim Fahrradfahren nervt: Stadtverkehr.

Aber das Thema ist ja Radfahren, nicht stehen oder schlechte Raumaufteilung. 

Aber als Sport? Als Hobby?

Die meisten Menschen können Fahrrad fahren, viele tun es auch. So wie ich. Von A nach B und zurück, während 2 Tonnen CO2 und mindestens so viele Staustunden im Jahr gespart und finanzielle Einschränkungen zur bewussten Entscheidung werden. Lassen wir nun den Zweck weg, den einen Ort zum Ankommen und tauschen Stadtrad gegen leichtes Rennrad, wird aus täglicher Pflicht mein neuester Versuch, eine Passion zu finden. Ganz ohne Absichten links-grünes Gedankengut zu verteilen oder die Welt zu verbessern. 

Nebenbei komme ich damit zurück zum wirklichen Kern der mir selbst gestellten Aufgabe.

Keine Ahnung, warum mir das nicht früher aufgefallen ist. Rennradfahren ist DAS Prototyp-Hobby mittelalter Menschen mit erstem Full-Time Job, um sich so richtig selbst zu spüren. Es erfüllt wirklich alle meiner damals aufgestellten Kriterien. Es ist teuer, braucht sehr viel Zeit und schon beim Nachdenken darüber kann man Nackenschmerzen bekommen. 

Es passt beängstigend gut. Zudem kommt, dass ich schon lange Fan bin. Seit dem Tag, als Yoga noch kein Thema war und stattdessen Tour de France im Fernsehen geschaut wurde. Da saß ich auf dem Sofa, während die an der Magersucht gerade noch durch Blutdoping vorbeigekommenen Männer an Maisfeldern vorbeifuhren und ich mich maßlos langweilte. Ja, es gab noch etwas Eintönigeres als die Formel 1. Inzwischen bietet Jan Ullrich Radreisen auf Mallorca an und ich bin in einem Alter, in dem ich Monotonie und Stille immer mehr zu schätzen weiß, sogar verordnet bekomme.

Da ist es an der Zeit herauszufinden, wie sich das ganze wirklich anfühlt. 

Bei meiner Recherche finde ich heraus, dass Lesen genauso viel Zeit einnehmen kann beim Rennradfahren, wie das Fahren selbst. Ernsthaftigkeit vorausgesetzt. Denn die wirkliche Freude besteht im Erweitern der eigenen Kollektion und Anbauteile. Schnell stelle ich fest, dass z.B. ein Helm nicht nur typische Helmaufgaben hat, wie lustig aussehen, sondern ebenso wichtig ist das Gewicht, der cW Wert und weniger der Preis. Es ist faszinierend, welche Testkriterien da für den wissenschaftlichen, objektiven Anstrich herangezogen werden.

Um den Einstiegspreis von 1000-2000€ neuer, ernsthafter Rennräder zu umgehen, leihe ich mir erst einmal eines aus und lasse die Ampeln hinter mir. Ich bin hauteng gekleidet, um keinen Luftwiderstand zu erzeugen und zwischen den ganzen Normalo-Radfahrer*innen hindurch zu schlüpfen. Dabei bin ich jeden Kilometer mehr davon fasziniert, wie direkt das Fahrverhalten und die Beschleunigung ist. Wenn man wie ich jahrelang nur alte Räder mit rostigen Ketten und 20 kg Gewicht fährt oder achternde Retrorennräder mit klapprigen Pedalen, ist es wirklich spannend zu merken, wie wenig Aufwand beim Fahren nötig ist.

Es läuft alles so rund.

Klappern tut nichts, geräuschlos schwebe ich dahin und lasse die Landschaften hinter mir. Ausdauersportarten ohne Übertreibungen spannend zu beschreiben ist unmöglich. Es passiert einfach nicht so viel, aber es ist die meiste Zeit angenehm. Es wird gefahren, der Hintern tut etwas weh, die Schmerzen sind erträglicher als beim Laufen und während der Fahrt mache ich mir keine Sorgen mehr, auch nicht darüber, wegen der Klickpedale hinzufallen. Es geht weiter nach vorne, nach oben und unten, immer länger und weiter in die Erschöpfung hinein. Ich verausgabe mich, aber es passiert langsam, stetig mehr. Nach und nach werden die Anstiege länger, auf kleinstem Kettenblatt geht es steil bergauf, bis ich Blut schmecke und erschöpft, gequält und glücklich oben ankomme. Das Absurde daran ist dann eben, wie ich mich sehr gut und befreit fühle und langsam beginne zu verstehen, was an Ausdauersport Spaß machen kann.

Mehr gibt es dazu gar nicht zu sagen. 

Außer vielleicht, auf die kreativen Glanzleistungen zu verweisen, zu denen die Auseinandersetzung mit dem beliebtesten Ein-Personen-Fahrzeug führen kann. Z.B. Hier

Dann fahre ich sehr schnell bergab, der wirkliche Spaß beginnt und wenn ich dann erst einmal das nötige Budget für den Sport besitze, werde ich es vielleicht sogar in Betracht ziehen.

So lange muss ich wohl noch Kolumne schreiben, um aus meiner Komfortzone zu kommen, ich will mich weiterhin überwinden und die Dinge tun, die ich sonst immer vermieden habe. Deshalb folgt, mit 1,5m und 2 Wochen Abstand: 

Tyll tut#13 – Brettspiele spielen.

 

Erfolgserlebnisse: Bin oben. 9/10 

Macht fit und belastbar: Rennradler*innen nehmen im Schnitt 5,8Kg ab, bald rasiere auch ich meine Waden. 8/10

Fühlt sich nach Arbeit an: Ich spüre meinen Sitz. 8/10 

Preislich skalierbar: Scheinbar 20 Mal günstiger als ein Auto, keine Ahnung was das genau bedeutet 8/10

Spaß: Huiii! Abfahrt. 8/10

Gesamt: 41/50

Ich weiß auch nicht, wie man das schreibt.

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