Gegen das Vergessen ankämpfen – Schriftsteller Doron Rabinovici erzählt im Interview von der Wichtigkeit, die Stimme der letzten Zeitzeug*innen weiterzutragen, aber auch in der aktuellen Krise die Minderheiten nicht zu vergessen.
Titelbild © Lukas Beck
Sie haben vor kurzem eine Online-Lesungsreihe begonnen. Was war die Motivation dahinter?
Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich teilnehmen möchte an der Welt, andererseits sah ich, dass es ein Bedürfnis gibt und dass da etwas zu tun ist. Mich störte nicht zu sehr das Zuhausesein oder dass ich niemanden außer meinen Liebsten zu sehen hatte, ich konnte ja die Leute durchaus kontaktieren.
Ich konnte Kürzestgeschichten und Ausschnitte aus meinen Büchern zum Besten geben. Eigentlich hätte ich noch viel mehr lesen können, aber die Zeit war auch gut zum Schreiben und so geriet nach einer gewissen Zeit das Lesen und das Schreiben in Konkurrenz, da hab ich mich dann auch mehr dem Schreiben zugewandt.
Sie setzen sich verstärkt dafür ein, Minderheiten nicht zu vergessen. Das betrifft nicht nur die Menschen auf Lesbos, sondern auch Sinti und Roma. Inwiefern sind sie besonders von der Krise betroffen und was muss getan werden?
Die Tatsache, dass es mir im Shutdown gut geht, lässt mich nicht vergessen, wie es anderen geht. Ich glaube, dass Formen von Diskriminierung durch die Krise bestärkt werden. Und dann kommt noch hinzu, dass jene, die ausgegrenzt sind und in normalen Zeiten schon in einer Art Quarantäne leben, noch einmal in übleren Situationen und noch gefährdeter sind, wenn das Virus zuschlägt. Man vergisst, wie es in Wirklichkeit jenen Leuten geht, die überhaupt keine Wahl haben, etwa in einem Asylheim, wo es nur eine Sanitäranlage für dutzende oder hunderte Menschen gibt oder in den Lagern, Lesbos oder eben Roma. Ich glaube, dass die Verdächtigungen zunehmen werden.
Was glauben Sie wird die Krise verändern?
Ich glaube, dass solche Seuchen immer ein Schub sind. Das heißt, dass jene, die schon in den letzten Zeiten auf der Gewinnerseite waren, hier noch einmal gewinnen. In unserem Fall sind das all jene, die in modernster Art und Weise, elektronisch, digital und virtuell Lösungen anbieten.
Es gibt außerdem unterschiedliche Wünsche innerhalb dieser Pandemie. Das Eine ist, das Virus zu besiegen, das Andere ist, so schnell wie möglich wieder in geregelte wirtschaftliche Bahnen zu kommen. Und das heißt, dass man einen Teil der Bevölkerung ausgrenzt.
Sicherlich auch spannend ist, dass es eine Form von Tracking geben wird. Da ist die Frage, wer die Daten kontrolliert, wer über sie verfügt und wie freiwillig das gestaltet ist. Das wird sicherlich je nach politischer Gesellschaft und Staatssystem sehr unterschiedlich sein.
Dieser globale Aspekt, die Situation erinnert an die ersten Seiten Ihres Romans Die Außerirdischen – auch wenn natürlich die weitere Handlung ganz anders verläuft. Hier ist die Welt regelrecht gelähmt, weil das bekannte System so nicht mehr funktioniert. Sehen Sie eine Verbindung zwischen der Anfangsthematik im Buch und diesen Zeiten?
Das Buch ist ein Bruch in meinem Schreiben und das hat damit zu tun, dass ich mich mit globalisierten Phänomenen beschäftigt habe. Plötzlich ist es für mich nicht mehr wichtig gewesen, eine Geschichte zu erzählen, die in Wien im 1. oder 2. Bezirk, im Prückel oder in der Bäckerstraße spielt. Das Entscheidende ist das Totalitäre im Buch, bei dieser Seuche, bei dieser Pandemie und auch beim Populismus: Es kommt nicht als Zwangssystem, sondern als Angebot einer scheinbaren Freiwilligkeit.
In einem Text für den Falter habe ich geschrieben, dass die wahre Gefahr von Anfang an die einer Selektion war: Wer kann weiterarbeiten und wen lässt man auf der Strecke?
Wir sind so aufgewachsen, dass man den Menschen erklärt hat, bis ins hohe Alter aktiv sein und arbeiten zu können. Viele haben ihre Karrieren darauf aufgebaut. Jetzt plötzlich sagt man ihnen: „Na bleibts halt die letzten Jahre eures Lebens zuhause.“ Und siehe da, die ein bisschen Jüngeren finden das total in Ordnung. Ja, diese Stimmung in dem Buch, die ich mir vorgestellt habe, die finde ich jetzt wieder.
Im letzten Teil von I wie Rabinovici benennen Sie die Wichtigkeit, Worte zu finden für das Unsägliche und Widerworte zu geben. Wie sehen Sie die Rolle des Schriftstellers, als Erinnerungsbewahrer, aber auch in der aktuellen politischen Situation?
Ich glaube, dass es sich logisch und soziologisch ergibt, dass wir gewisse Rollen annehmen. Für mich ist das stark verbunden mit der Auseinandersetzung mit den autoritären, rassistischen und antisemitischen Verhältnissen und in dem Zusammenhang auch mit Erinnerung, dem Festhalten des Wortes: So zu erkennen, wie es ist zwischen den verschiedenen Sprachen zu leben. Das habe ich in I wie Rabinovici darzulegen versucht. Aber ich will das nicht als Regel für alle Autoren postulieren.
Wenn jemand sagt „Auch Spaß muss sein“, hört meistens der Spaß auch schon auf. Genauso ist es mit dem politischen Schreiben. Man kann das nicht dekretieren, aber ich kann nicht auf die Sprache stoßen, ohne dass das einen politischen Aspekt hat. Und insofern ist das, was ich tue, sehr klar und deutlich gegen eine Sprachverhunzung durch Menschen gerichtet, die ganz genau wissen, was sie mit ihren Schlagworten und Hetzreden anrichten.
Diesen Monat hat sich ja auch der 8. Mai, der Tag der Befreiung, zum 75. Mal gejährt. In Berlin ist dieser Tag ein einmaliger Feiertag. Es werden aber immer wieder Diskussionen geführt, ihn zum dauerhaften Feiertag zu machen. Was halten Sie von dieser Debatte?
Ich kann aus Wien und aus meiner Position nicht sagen, ob Deutschland einen offiziellen Feiertag einrichten soll, aber ich finde es sehr wichtig, dass es eine Auseinandersetzung gibt. Wenn es keine spezielle Veranstaltung gäbe, würden das jene Leute, die heute mit Kritik und mit Skepsis auf die Gedenkrituale schauen, zu Recht kritisieren. Das heißt, eigentlich ist jemand aus deutscher Perspektive in einer Zwickmühle: Was wir da feiern, ist eine deutsche Niederlage, das ist der Sieg der Alliierten.
Parteien wie die AfD sprechen ja tatsächlich auch von einem Tag der Niederlage.
Genau. Man muss aber auch sagen: Ja, es ist ein großes Glück für Menschen, die Demokratie und nicht den Massenmord wollen, dass das Deutsche Reich diesen Vernichtungskrieg verloren hat. Zugleich ist es klar, dass die Befreiung kein Tag für ein Fest ist. Ein Fest für die Befreiung kann nur der Kampf für und um die Befreiung sein. Und dieser Tag bestätigt das. Eigentlich ist es so, dass wir hier in Österreich diesen Tag begehen müssen, weil die Freiheitlichen, die Burschenschaften und die AfD ihn als Trauertag ansehen.
Um Rechtsextremismus geht es auch in Ihrem Roman Ohnehin, um die Bedeutung von Erinnerung und das Gefühl, fremd zu sein an einem Ort, nie ganz anzukommen. Die Geschichte spielt in Wien und diese Stadt ist so präsent, dass sie fast wie eine weitere Protagonistin wirkt. Welche Rolle spielt Wien für Ihr Leben und Schreiben?
Wien ist ein Ort, an dem ich mich besonders gut fremd fühlen kann. Das ist insofern wichtig, weil ich mich da auskenne.
Sie leben schon lange in der Stadt.
Ja. Ich lebe, seit ich drei war, in der Stadt und es ist eine andere Situation als in Tel Aviv, das ich auch gut kenne und wo ich auch sehr viel von der Sprache verstehe. Ich kam in Wien an und war davon überzeugt: Ich bin kein Wiener, ich bin kein Österreicher, sondern ich bin ein israelischer Bub, der bald wieder weg sein wird. Das hat sich natürlich schon geändert, aber ein gewisser Blick von außen ist noch da. Gleichzeitig bin ich Teil der Auseinandersetzung. Das Wort „Auseinandersetzung“ bringt dabei sehr viel auf den Punkt in der deutschen Sprache, es ist sehr schwer zu übersetzen.
Ich habe eine historische Arbeit über die israelitische Wiener Kultusgemeinde 1938-1945 geschrieben. Wien ist auch deswegen so entscheidend, weil es die Stadt mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil im deutschsprachigen Raum war: ein jüdisches Wien, eine Wiege der Moderne, das ausgemordet worden ist durch ein antisemitisches Wien, das eine Avantgarde des Antisemitismus war. Das ist ein sehr dichtes Feld und ich bin in Wien damit immer konfrontiert. Wäre ich in Tel Aviv oder New York, wäre das Thema der Vergangenheit und des Jüdischseins für mich nicht so relevant wie hier. Bekanntlich nannte Karl Kraus Wien eine Versuchsstation des Weltuntergangs. Die meisten besuchen ja heute Wien, weil es nicht mehr existiert.
Schon sehr bald werden wir nicht mehr die Chance haben, den letzten Zeitzeug*innen zuzuhören. Sie haben damals am Burgtheater Die letzten Zeugen auf die Bühne gebracht. Was möchten Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben, sowohl um die Erinnerung an das Geschehene zu bewahren als auch in einer solchen Krise, wie sie momentan vorherrscht?
Die Person, die ich damals fragte, ob sie mitmacht und von der ich alles abhängig machte, war meine Mutter. Meine Mutter sagte damals „Ja“ und sie sprach damit das Gefühl der Überlebenden an, aufgrund der Verpflichtung gegenüber den Ermordeten unbedingt Zeugnis ablegen zu müssen: „Ihr, die überlebt, erzählt, wie man uns umgebracht hat.“ Meine Mutter sagte auf der Bühne und im Parlament: „Ich werde gefragt, ob mir das schwerfällt. Ja, es fällt mir sehr schwer, hier aufzutreten. Ich habe Albträume danach. Ich habe Depressionen. Aber ich mache es der Ermordeten wegen. Nach ‘45 war ich ein Kind, ein halbes Kind, ein überlebendes Kind. Jetzt bin ich eine Überlebende, eine letzte Zeugin, doch bald werde ich nicht mehr sein.“ Im Sommer des letzten Jahres starb meine Mutter, aber lebendig bleibt, was sie sagte.
All die Dinge, die damals in die Vernichtung führten, sind nicht psychologisch, sozial überwunden. Im Gegenteil, viele Verstrickungen wirken nach. Insofern ist es verständlich, dass es Leute gibt, die diese Erinnerung vergessen machen wollen. Solange es solche Leute gibt, bleibt es relevant, gegen dieses Vergessenmachen, gegen das Leugnen und das Lügen aufzutreten und zu kämpfen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.