Über den Tod sind schon viele Bücher geschrieben worden. Zu frühes Sterben, Krankheit, der Umgang mit Trauer – diese Themen kehren immer wieder, beschäftigen uns immer wieder aufs Neue. Was ist also anders an „das alles hier, jetzt.“?
(c) Titelbild: Zarah Weiss
Im Grunde gibt es zwei Teile in dem bei Elster & Salis in Zürich erschienenen Roman der Schweizer Autorin Anna Stern. „Part 1, Februar bis Juli“, öffnet sich ganz langsam, nur ein Satz steht jeweils auf den ersten Seiten. Es beginnt mit der Gegenwart, einem Fakt:
„ananke stirbt an einem montag im winter, nachmittags zwischen sechzehn und siebzehn uhr.“
Der nächste Satz dann, erst auf der rechten Seite wieder, Sprung in die Vergangenheit, der kurze Fetzen einer Erinnerung:
„wir schenken uns nichts. Das einzige, was wir uns geben, sind unsere namen: ananke gibt mir den namen ichor.“
Diese beiden Seiten bilden nicht nur den Auftakt, sondern auch einen Vorgeschmack auf den restlichen Teil. Immer abwechselnd erzählt Stern, die übrigens 2018 mit dem 3sat-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur und 2019 von der Stadt Zürich in der Sparte Literatur ausgezeichnet wurde, in der Du-Perspektive von der Trauer einer Gruppe von Freund*innen, deren Freundin Ananke nach kurzer Krankheit aus dem Leben gerissen wird. Jeweils auf der linken Buchseite, in schwarzer Schrift, geht es um die aktuelle Situation, um die Beerdigung, die Wochen danach und um Gedanken und eine Lähmung, die ein normales Leben kaum noch möglich macht. Auf der rechten Buchseite dann, grau gedruckt, werden Erinnerungen erzählt: Kindheit, Jugend, Familie, Ausflüge, Konflikte, Überzeugungen.
Über zwei Drittel des Buchs zieht sich diese Erzählweise und obwohl sie so am Anfang noch kurz irritiert, geht der Stil, geht auch die Sprache schnell auf: Ananke ersteht wieder auf in den Erinnerungen, wir gehen mit den Protagonist*innen zelten, streiten uns, verstehen die Motive der Freundin nicht, fühlen uns geborgen. Und sind gleichzeitig so wahnsinnig gelähmt und hilflos, wie erstarrt von einer Trauer, die nicht enden will. Mal sind es nur kleine Beobachtungen, mal ist es das Sezieren von Gegenständen, Situationen oder Gefühlen, mal sind es Szenen, die sich über mehrere Seiten erstrecken.
Und dann, mittendrin, hören die Erinnerungen einfach auf, reißen heraus. Nach dem Umblättern bleibt Seite 194 leer und rechts steht, jetzt auch in schwarzer Schrift:
„du legst das notizbuch weg.“
Willkommen in Part 2, in der Gegenwart, die lückenlos ansetzt und die mit einer aberwitzigen Aktion aufwartet. Die Gruppe der Freund*innen kommt auf eine radikale Idee, ihrer Trauer Herr zu werden. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Stattdessen aber: eine ganz klare Empfehlung, einzutauchen in diese brutale, zärtliche und menschliche Geschichte, diesen einen großen Plot und diese vielen kleinen Nuancen.
Weitere Informationen:
Hier gehts zum Buch und hier findet ihr ein Porträt der Autorin.
Seit dem 15. September steht dieser Roman übrigens auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2020. Wir drücken die Daumen!
Nachtrag: Am 8. November wurde verkündet, dass Anna Sterns Roman den Schweizer Buchpreis gewonnen hat – verdient, wie wir finden! Wir gratulieren ganz herzlich!
Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.