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Tyll tut #21 – #vanlife

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In dieser Kolumne wird unser Redakteur Tyll Leyh erwachsen. Das ist zumindest der Plan. Er probiert Hobbys, scheitert und liefert dabei Einblicke in sein Seelenleben. Diese Woche denkt er nicht daran weiterzufahren, wenn es ihm nicht gefällt, nachdem er viel zu spät den dritten vollen Campingplatz angesteuert hat. 

Da stehen wir nun, in der Toskana, zwischen den anderen Deutschen und Österreichern und fühlen uns wohl dabei, kollektiv isoliert voneinander zu sein. Man freut sich immer, sich im Ausland zu begegnen, weil nie Interesse an einer Unterhaltung besteht, die über ein gegrummeltes Hallo hinausgeht. 

Life Changing Moments

Ich bin mir nicht sicher, ob die Woche in Norditalien im Camper schon als lebensverändertes #vanlife bezeichnet werden kann: dem Sabbatical auf eigner Achse, folgend dem neuen Corona-Boom und der Sehnsucht nach unbekannten Straßen, unerreichten Gipfeln, Natur, Urlaub, Abenteuer und anderen schnarchigen Floskeln zum Thema Fernweh. Überall hinfahren, nirgends ankommen, toll. Frei fühlen von Sorgen, Verpflichtungen und stationärer Leere. 

Wo sonst als in der Toskana könnte dieser Durst nach dem Unbekannten gestillt werden, zumindest solange ich der Tankanzeige vertraue, die irgendwie sehr lange verdächtig still bleibt, um dann kurz vor der Reserve stehen zu bleiben. Also nach über 1000 km zumindest eine Sache, die unbekannt ist, der genaue Inhalt des Tanks oder die Information, wie viel überhaupt reingeht. 

Renaming, reclaiming

Camping, wie es früher genannt wurde, war ja zuallererst bemitleidenswert. Menschen, die jedes Jahr auf den selben versifften Platz im allernächsten mediterranen Nachbarland fuhren, um dann hermetisch abgeriegelt die Außenwelt und das Land zu vergessen, in dem sie sich gerade befinden, um dann innerhalb geometrischer Parzellen, Dosenbieren, Unterhemden und Disko/Karaokeabenden mit Alleinunterhalter Axel L für sechs Wochen Sommerferien dahinzusiechen. 

Gut, dass wir es anders machen, denn wir sind auf einem kleinen Campingplatz, die großen sind und bleiben schrecklich, und wir schlafen nachmittags nicht im Vorgarten, sondern am Strand. Außerdem will ich mich dem Trend unserer Zeit nicht versperren, auch die letzte Spießigkeit durchzugentrifizieren und mit Sinn aufzuladen, während ich mich in diesem fahrenden Verkehrshindernis im zweiten Gang die Alpen hochquäle und nebenbei endlich die letzte sozial akzeptierte Form gefunden habe, mit Diesel ohne Katalysator die Luft so richtig einzuschmelzen mit Teer, Mikropartikeln, ohne Ziel, Interesse und Verstand. 

Das hört sich negativer an, als es gemeint ist

Ich finde es klasse. Es macht Spaß, in einem anderen Land etwas Kaufkraft zu haben, sich den bekannten Komfort möglichst zu erhalten, die armen Zeltler bei Regen zu bemitleiden und ein wenig von unbegrenzter Freiheit zu faseln, während man sich im nächsten Halbsatz über die übertriebenen Mautgebühren aufregt. Und man muss schon ein Unmensch sein, um alte Campingvans oder VWs nicht klasse zu finden, gerade in ihrer Eigenschaft Nostalgie mit 80 PS, übertriebener Lärmigkeit und Hitze zu verbinden, während man sich ohne Servolenkung den Bizeps rangiert. Was kann sich denn mehr nach Sommer anfühlen?  

Soviel Freiheit wie Wiederholung

#vanlife fasst es als Hashtag und Instagram-Trend zusammen. Für eine breite Spanne an hippen und vorwiegend jungen Leuten, denen selbst die Großstadt-WG zu teuer geworden ist und die sich nun in noch kleinerem Raum mit noch höherem Quadratmeterpreis freier fühlen wollen. Es ist die Fortsetzung der lebensverändernden 6 – 8 Wochen in Thailand, Vietnam oder Australien bei weniger Work als Travel. Nur zehn Jahre später, nun nicht mehr um vor den übertriebenen Erwartungen der Eltern zu flüchten, sondern vor dem eigens erschaffenen Umfeld aus Freunden, Job, Langeweile und vorgetakteter Existenz. Packpacking reloaded, nur mit mehr Budget und ohne die überhebliche und idealistische Idee der Weltverbesserung. Da man inzwischen relativ eigenverantwortlich geworden ist und für die eigene Situation niemand anderem etwas vorwerfen kann als sich selbst. So bleibt nur ein letztes Aufbegehren der vergänglichen Jugend vor der Midlifecrisis im eigenen Ausbau eines kaputten Vans, um endlich wieder unterzugehen im Einheitsbrei der Individualisten. 

Puhh, das hört sich wieder viel zu negativ an

Es macht FUN! Ich will die ganzen DIY-Füchsinnen und -Füchse gar nicht diskreditieren. Bin nur neidisch, ich schaff es einfach nach mehrstündiger Fahrt nicht mehr, meine Arme über dem malerischen Sonnenuntergang auszubreiten und von hinten fotografieren zu lassen, bin da meistens schon bei der Leuchtstoffröhre und den sanitären Anlagen oder beschäftigt damit, Stechmücken panisch und manisch einzusammeln in der verzweifelten Gewissheit, nachts dennoch zerstochen zu werden. 

Normaler Urlaub eben,

zwischen der Frage, in welcher Richtung der Camper am besten positioniert werden soll, um Strom, Schatten, ein wenig Sonne zur richtigen Zeit und divergierende Meinung dazu auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, bevor man endlich baden gehen darf. Dann ist man auf dem nächsten Platz, am nächsten schönen Ort und versteht die Faszination der verlässlichen täglichen Routine aus Teppich ausrollen, Markise ausfahren, Stühle aufstellen und profaner Tagesplanung immer mehr. Es ist entspannend, die Zeit zu füllen mit auswechselbaren Handlungen, Frühstück, der Frage der Weiterfahrt und Abendessen. Es entwickelt sich daraus ein eigener Flow, eine gemütliche Art der Fortbewegung, die langsame, dennoch ständige Wechsel, gerade im Moment vor der Langeweile, erlaubt. 

Fazit:

Muss man dies als alternativlosen Lebensstil propagieren? Sicher nicht. Tut das wer? Bestimmt weniger, als die paar promotenden Social-Media-Onlinejobber es darstellen. Freiheit ist relativ. Insofern ist die Wahrnehmung des Ganzen so individuell wie das Gefühl dabei. Da kann das Fazit nur aus dem bestehen, was mir aufgefallen ist. Man sieht viel in wenig Zeit, sollte nie mehr als zwei Stunden am Tag fahren, die dritte schöne Straße am Tag ist weniger interessant als die erste, wer bereits eine Campingtoilette selbst gereinigt hat, freut sich über sanitäre Anlagen, und wer nicht frieren will, fährt in den Süden.

Nächste Woche bin ich dann so richtig in der Nebensaison angekommen und überlege mir spontan Tyll tut #22. 

Erfolgserlebnisse: Dieses Mal daran gedacht, den Gashahn abzudrehen. 7/10

Macht fit und belastbar: Wir nehmen fürs gute Gewissen die Räder mit, sonst sitzen wir viel. 6/10

Fühlt sich nach Arbeit an: Wie, es gibt keine Spülmaschine? 7/10

Preislich skalierbar: Lass dann mal lieber Essen gehen! 8/10

Spaß: Juhhuu, bergab den LKW überholt!! 9/10

Gesamt: 37/50

Ich weiß auch nicht, wie man das schreibt.

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