Auf sachlicher Ebene ist die EU für fast alle in Europa ein Gewinn. Aber wie steht es um unsere Gefühle? Brauchen wir eine europäische Identität? Warum? Und wie soll eine solche aussehen?
Wir befinden uns im Zeitalter der Identitätspolitik. Jede noch so kleine Eigenschaft wird zur Sinnstiftung hochstilisiert. Diese ist dann meist nicht oder nur schwer änderbar und exklusiv. Ich bin Wiener, ich bin ein Mann, ich bin weiß. Dass ich nie etwas dazu beigetragen habe, dass ich diese Eigenschaften besitze, ist nicht relevant.
Dabei ist der Wunsch nach Zugehörigkeit durchaus zu verstehen. Identität gibt uns Orientierung in der Welt, sie hilft, uns selbst einzuordnen. Auch deswegen sind die, die sích in verfestigte Identitäten verlieben, etwa Rechtsnationalisten, oft Menschen, die sonst gesellschaftlich den Anschluss verloren haben.
Die Art der Identität, die wir wählen, macht den Unterschied. Wollen wir uns in immer kleinere, immer speziellere Gruppen aufspalten und immer genauer definieren, wer bei uns nicht dazugehören kann, oder wollen wir uns darauf konzentrieren, ein Haus zu bauen, in dem möglichst viele wohnen können?
Warum Europa?
Warum aber nun eine europäische Identität? Warum nicht gleich eine Weltbürgerschaft oder gar eine speziesübergreifende Identität als Erdenbewohner? Das wäre doch viel konsequenter. Aber leider aktuell schwer fühlbar, weil uns dazu die Anknüpfungspunkte in der Realität fehlen. Rein philosophisch sind die beiden Beispiele wunderschöne Modelle, es fehlt ihnen aber an Institutionen, an denen wir uns festhalten können. Europa hat davon mehr als genug.
Der Euro, Erasmus, der Gerichtshof für Menschenrechte, all das betrifft uns direkt, stiftet Sinn und Identifikation. Wer sich bei einem Austauschsemester verliebt und eine Odyssee mit dem Zug über fünf Ländergrenzen auf sich nimmt, um einen unvergesslichen Sommer zu verbringen, dem*der muss man nicht mehr erklären, warum er*sie Europäer*in ist.
Unangenehme Wahrheiten
Die Suche nach einer Form von europäischer Identität kann aber nicht nur dort beginnen, wo alles gut ist. Am Anfang muss eine kritische Auseinandersetzung damit stehen, was falsch läuft.
Die Festung Europa kostet jedes Jahr zahllose Leben und tritt Menschenrechte mit Füßen. Soll es Teil unserer Identität sein, Kinder in Zelten an Lungenentzündungen sterben zu lassen? Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, die Geflüchteten widerfährt, erschüttert unser Vertrauen in die Werteordnung der Union. Zu Recht, es geht sich schließlich einfach nicht aus, einerseits die Wiege der Demokratie und der Menschenrechte zu sein und gleichzeitig wissentlich Menschen im Mittelmeer ersaufen zu lassen.
Genauso verhält es sich mit Europas kolonialer Vergangenheit. Erst wer vergangene Fehler eingesteht, kann sicherstellen, dass sie sich nicht wiederholen. Europa muss sein gemütliches Schweigen über die Verbrechen der Kolonialzeit beenden. Dass der Völkermord an den Herero etwa kein wichtiger Teil der europäischen Bilungspolitik ist, ist eine Schande.
Nur durch diese Auseinandersetzung kann Europa für kommende Generationen Identifikation bieten, die auch ernst zu nehmen ist. Wer will schon Teil einer Union des Wegschauens sein? Auf der weltpolitischen Bühne gibt es schließlich schon genug unreflektierte Mythenbildung.
Die EU in der Welt
Europa sollte sich als die weltpolitische Alternative zur Autokratie Xi Jinpings oder Putins präsentieren und zugleich dem Kulturkolonialismus und Nationalismus der USA eine Botschaft von Toleranz und Vielfalt entgegensetzen. Vor allem wäre dabei aber wichtig, dass die EU betont, dass wer immer Teil dieses Projektes sein will, das auch sein kann. Das sollte für Nationen ebenso gelten, wie für Migrant*innen und Geflüchtete.
Demokratische Hürden
Die europäische Idee sollte dabei für mehr stehen als für Freihandel und gemeinsame Sparpolitik. Die Union sollte sich als Vorreiter für ein gerechteres Leben für alle verstehen. Die EU müsste also ernsthafte gesellschaftspolitische Maßnahmen setzen können, die vielleicht den konservativen Mitgliedsländern nicht gefallen. Dazu müsste aber zuallererst das Einstimmigkeitsprinzip in der Kommission fallen.
Einstimmigkeitsprinzip
Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU bedeutet, dass Beschlüsse der Kommission nur einstimmig gefällt werden können. In der Vergangenheit hat das immer wieder bedeutet, dass einzelne Nationalinteressen die Beschlussfassung verhinderten. So blockierten etwa Ungarn und Polen immer wieder Regelungen zur Rechtsstaatlichkeit.
Dieses Prinzip begünstigt den Status Quo und verhindert so, dass die EU nach vorne schaut. Vor allem aber macht es die Union träge und oft unfähig, die großen Probleme unserer Zeit in Angriff zu nehmen. Sich als junger Mensch mit einer solchen Institution zu identifizieren, ist viel verlangt.
Wenn wir uns trotzdem als Europäer*innen verstehen, dann stoßen wir schnell auf ein weiteres Problem. Wir können nur nationale Listen wählen. Es muss endlich möglich sein, europaübergreifende Parteien ins EU Parlament zu wählen. Nur so können sich auch Bewegungen bilden, die Europäer*innen das Gefühl geben, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Nationenweise Europapolitik zu wählen, ist absurd.
Und jetzt?
Nur wenn sich die EU kritisch mit sich selbst auseinandersetzt, hat sie das Potential für viele junge Menschen mehr zu sein als nur eine Verwaltungseinheit im fernen Brüssel. Eine Gesellschafts-Union, die über Wirtschaftsinteressen hinausgeht, könnte eine neue Form des internationalen Austausches bedeuten, den Länder-Tellerrand sprengen und uns dazu anregen, uns mit Neuem auseinanderzusetzen. Sie würde uns mehr Gemeinsamkeiten sehen lassen und kleinteiliger Identitätspolitik Paroli bieten.
Ich fühle mich als Europäer. Aktuell ist dieser Satz aber ein bloßes Lippenbekenntnis, für das ich mich, öfter als mir lieb ist, rechtfertigen muss. Wenn die Union ihren Zukunftsauftrag wahrnimmt und sich stärker politisch positioniert, dann kann ich ihn vielleicht in Zukunft mit mehr Selbstbewusstsein füllen. Nicht weil ich stolz auf meinen Geburtsort wäre, sondern weil die Idee, für die die Union eintritt, ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einer sozialen, demokratischen und ökologischen Welt ist.
(c) Titelbild Jannes van den Wouwer
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