Im achten Wiener Gemeindebezirk steht ein unscheinbarer Gemeindebau des Roten Wien. Das Haus mit der grauen Fassade und den rostrot umrahmten Fenstern ehrt die österreichische Sozialdemokratin Therese Schlesinger. Als im März 1911 zahlreiche Frauen über den Ring zogen, um den ersten österreichischen Frauentag zu feiern, hatte sie die Hymne dazu geschrieben. Zur Melodie des Sozialistenmarsches sangen die Teilnehmerinnen das Frauenwahlrechtslied.
Aus dem Bürgertum in die Sozialdemokratie
Schlesinger war in eine bürgerliche Industriellenfamilie geboren, weit weg von Armut, Elend und Aufständen der Arbeiterschaft. Dennoch entwickelte sie als junge Frau ein leidenschaftliches politisches Interesse, eine Art „Gefühlssozialismus, der aber zu nichts anderem, als zu romantischen Träumereien führte“, wie sie selbst schreibt. Schlesinger verliert in dieser Zeit ihren Mann an die Tuberkulose, leidet an Kindbettfieber, von dem sie sich nie erholen wird und pflegt ihr Kind, das nach einer Lungenentzündung stark geschwächt ist. Den Wunsch, „irgendwie zur Befreiung der Entrechteten beizutragen“, gibt sie nie auf.
Sie besucht Versammlungen des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins und lernt sozialdemokratische Größen wie Adelheid Popp oder Viktor Adler kennen. Mit 34 Jahren entschied sich Schlesinger gegen die bürgerliche Frauenbewegung und trat der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Später wird sie eine der führenden Personen der Partei, sitzt als eine der ersten Frauen im österreichischen Parlament und kämpft, auch gegen die eigenen Reihen, für das Frauenwahlrecht.
Mythen und Theorien
Es gibt viele Theorien dazu, wann und wo der Frauentag seinen Ursprung findet. Die Erzählung, die Feierlichkeiten hätten sich aus einem Streik von Textilarbeiterinnen in New York entwickelt, hat sich als Mythos herausgestellt. Der Frauentag hat nicht ein Gründungsdatum, sondern viele. Die Idee, einen internationalen Frauentag zu etablieren, kommt unter anderem von der deutschen Kommunistin Clara Zetkin. Sie schlägt 1910 auf der Zweiten Internationalen Frauenkonferenz in Kopenhagen vor, einen Tag mit internationalem Charakter zu veranstalten, der Forderungen nach Rechtsgleichheit und Frauenwahlrecht unter sozialistischer Auffassung in den Vordergrund stellt.
Zwei Parteien, zwei Feiern
Das Datum, an dem wir heute den Weltfrauentag feiern, ist lange umstritten. Einige Jahre nach dem 1. Weltkrieg beschließt die Internationale Konferenz kommunistischer Frauen in Moskau, den Frauentag, in Anlehnung an den Beginn der Februarrevolution, am 8. März zu feiern. Jahrzehntelang begehen kommunistische und sozialistische Gruppierungen den Frauentag getrennt voneinander. Das Datum ist nur einer von vielen Streitpunkten. Während der kommunistische Frauentag vor allem parteinahen Anliegen, namentlich dem Kampf gegen Krieg und Imperialismus und dem Schutz der Sowjetunion, seine Aufmerksamkeit widmet, stellen die sozialistischen Feiern frauenspezifischere Fragen in den Vordergrund. Im Austrofaschismus und unter der NS-Diktatur ist der Frauentag verboten und wird heimlich im Privaten gefeiert. Frauen sollen als Erkennungszeichen rote Gegenstände oder Kleidung zum „Auslüften“ ins Fenster gestellt haben. Historisch gesichert sind diese Überlieferungen nicht. Doch auch nach 1945 tritt der Frauentag zunehmend in den Hintergrund. Er wird parteiintern gefeiert, doch eine große Öffentlichkeit erreicht man mit dem Tag, der zunehmend dem Muttertag ähnelt, nicht mehr.
Nach und nach mehr Vielfalt
Das ändert sich erst wieder, als Mitte der 1970er die Vereinten Nationen den Internationalen Frauentag in ihren Kalender aufnehmen. Parallel zur Zweiten Frauenbewegung rückt der Tag damit wieder stärker ins Bewusstsein. Feierlichkeiten und Proteste positionieren sich neu, jenseits kommunistischer und sozialistischer Grabenkämpfe, die bis dahin nicht überwunden werden konnten. Seit den 1980er Jahren und bis heute wird der Frauentag immer vielfältiger, bunter und auch ideologisch pluralistischer. An den Protesten nehmen verschiedenste Organisationen, Vereine und Unternehmen teil. Von manchen Gruppierungen wurde der Tag neu auf den Namen „Frauenkampftag“ oder „Autonomer Frauentag“ getauft, um sich von den dezidiert parteipolitischen Veranstaltungen abzugrenzen. Es gab und gibt immer mehr Bemühungen, den Frauentag inklusiver und diverser zu gestalten: Migrantische und queere Frauen bekommen eine Plattform oder bilden bei Demonstrationen eigene Blocks.
Viktor Adler marschiert mit
Als 1911 Demonstrationszüge über den Ring zum Rathaus marschierten, war davon noch nichts zu spüren. Für die sozialdemokratischen Frauen, die sich damals zusammenschlossen, war dieser Tag in erster Linie ein Mittel, um das allgemeine Frauenwahlrecht durchzusetzen. Für die Parteigranden war diese Forderung lange zweitrangig. Umso bedeutsamer war es dann, als Viktor Adler eine Rede zum Frauenwahlrecht hielt. Danach stellte er sich zu Therese Schlesinger, so erinnert sie sich zwanzig Jahre später in einer Ausgabe der Arbeiterzeitung, und fragte: „Na, sind Sie nun endlich mit mir zufrieden?“. Schlesinger antwortete nicht und gab ihm nur stumm die Hand. Die Partei hatte sich also dazu entschlossen, an der Seite der sozialdemokratischen Frauen für das Frauenwahlrecht zu kämpfen.
„Es war kein Waffenaufmarsch, wie ihn die Wiener Sozialdemokratinnen wiederholt zustande gebracht haben, aber der mit roten Fahnen […] ausgerüstete, Kampflieder singende Frauenzug erregte doch gewaltiges Aufsehen.“
Therese Schlesinger, 1933 (Arbeiterzeitung)
Bis nach Sonnenuntergang hätten Frauen auf den Stiegen vor dem Rathaus, spontan und durcheinander gesprochen, bis zuletzt seien alle Reden durch jubelnde Zurufe unterstützt worden. Gehört und umgesetzt wurden ihre Forderungen aber erst sieben Jahre später, als Frauen 1918 das aktive und passive Wahlrecht zuerkannt wurde. Heute stehen völlig andere Forderungen im Vordergrund. Gewalt gegen Frauen, Sexismus, #metoo, Gender Pay Gap, unbezahlte Care-Arbeit und nicht zuletzt die Mehrfachbelastung, die Frauen in der Corona-Krise erfahren mussten. Der heutige Feminismus hat viele Baustellen.
Blumenstrauß oder feministischer Kampf?
Der Frauentag ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Marketingabteilungen aller möglichen Unternehmen wittern eine Chance, um daraus auch eine Marke zu machen. Am Valentinstag steht die Liebe, am 8. März der Feminismus zum Abverkauf. Dass es beim Weltfrauentag nicht um Pralinen oder Blumen, sondern um Frauenrechte geht, stand in den letzten Jahren vielfach im Zentrum feministischer Kritik.
In erster Linie erinnert der Weltfrauentag aber an die gewonnenen Kämpfe der Vergangenheit, an die von Frauen wie Adelheid Popp, Therese Schlesinger oder Johanna Dohnal erstrittenen und durchgesetzten Fortschritte. Trotz vieler Errungenschaften gehen weltweit unzählige Frauen wie Männer am 8. März auf die Straße. In Schlesingers Frauenwahlrechtslied heißt es an einer Stelle treffend: „Des Kampfes, den wir nicht beschließen, eh‘ wir das gleiche Recht genießen.“ Denn auch dafür gibt es den Weltfrauentag: sich bewusst zu machen, welche Meilensteine noch nicht erreicht wurden und welche Kämpfe es auch in Zukunft noch zu kämpfen gilt.
Vertonungen des Frauenwahlrechtslied gibt es keine – aber eine neue, modernisierte Version , interpretiert von Sweet Susie und Tini Trampler (femous). Wer nachempfinden möchte, wie das Original geklungen haben könnte, kann sich hier den Sozialistenmarsch anhören (und sich den Text von Therese Schlesinger dazu vorstellen)
Titelbild (c) The New York Public Library/unsplash.com