In der letzten Woche fiel die Türkei durch zwei innenpolitische Schlagzeilen auf: Der Verbotsklage gegen die linksgerichtete, pro-kurdische Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) folgte die Festnahme eines Parlamentsabgeordneten dieser Partei. Der HDP wird vorgeworfen, enge Beziehungen zu der verbotenen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zu unterhalten und Separatismus betreiben zu wollen. Der Konflikt zwischen der Republik Türkei und der PKK führt seit 1984 immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
Eine Gruppe, die in Kurden den Erzfeind des türkischen Volkes sieht, sind die sogenannten Idealisten (Ülkücüler), auch bekannt als die Grauen Wölfe (Bozkurtlar).
Immer wieder kommt es in Österreich bei Demonstrationen – vor allem von kurdischen Gruppen – zu Ausschreitungen zwischen den Demonstrierenden und politischen Gruppierungen wie den Grauen Wölfen. Im März 2019 wurde als Reaktion darauf der Wolfsgruß sowie weitere Zeichen der Grauen Wölfe und der PKK verboten.
Der allen überlegene Wolf
Wie in der Sage von Romulus und Remus spielt auch in Mythen anderer Kulturen ein Wolf eine große Rolle: Die Ergenekon-Legende erzählt, dass ein Wolf das türkische „Ur-Volk“ aus dem fruchtbaren Ergenekon-Tal, in dem diese „Ur-Türken“ Schutz suchten, hinausführte, als das Volk zu groß wurde. „Es zog von einem Wolf geführt aus, um die Welt zu erobern und mindere Völker zu unterstützen, ihre Imperien und große Zivilisationen zu gründen“, so erzählen es sich die Ülkücü, schreibt der Politikwissenschaftler und Religionspolitologe Dr. Hüseyin Çiçek.
Aus dieser Legende kann man erahnen, welche Gedanken den grauen Wölfen zu Grunde liegen: Die Überlegenheit des türkischen Volkes gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, der Wunsch nach einem großtürkischen Reich, das alle Turkvölker vom Balkan bis China überspannt.
Die Lage in Österreich
Die Organisation der Grauen Wölfe gibt es vermutlich schon seit den 1960er Jahren auch in Österreich. Hierzulande wird sie unter anderem von der ATF (Türkische Föderation Österreich) vertreten. Dr. Hüseyin Çiçek schreibt in seinem EICTP (Europäisches Institut für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention) Expert Paper davon, dass man die Anzahl der Ülkücü-Vereine in Österreich vorsichtig auf 30 bis 50 schätzen könne. Eine genaue Zahl ist deshalb so schwer zu bestimmen, da sie sich selten als Verein bezeichnen und Veranstaltungen beispielsweise in Moscheen oder Cafés abhalten, nicht an Orten, an denen die Veranstaltung angemeldet sein muss.
Es geht zwar wenig Gefahr von den Grauen Wölfen für österreichische Durchschnittsbürger aus, wie vergangene Demonstrationen jedoch gezeigt haben, werden auch teilweise österreichische Aktivist*innen angegriffen. Ganz zu schweigen von Österreicher*innen mit kurdischen Wurzeln, die seit Jahren Opfer von Gewalttaten der Grauen Wölfe werden.
Auch indirekt wühlt die Organisation das gesellschaftliche Leben in Österreich auf, so der Journalist und Politiker Thomas Rammerstorfer:
„Für das gesellschaftliche Leben ist eines sicher problematisch: Österreichische Rassist*innen legitimieren sich mit den Aktivitäten von Grauen Wölfen, Salafisten bzw. Anhängern des „Politischen Islams“. Und diese legitimieren ihre Tätigkeiten wiederum mit der Ausgrenzung durch österreichische Rassist*innen bzw. profitieren sie davon. Die Gruppen der Gesellschaft müssen sehr aufpassen, nicht in die Geiselhaft ihrer jeweiligen Extremisten zu gelangen.”
Marginalisierung führt zu Radikalisierung
Sich ausgegrenzt und nicht willkommen zu fühlen, ist, salopp gesagt, beschissen.
In dem Land, in dem man lebt und vielleicht sogar geboren wurde, als „anders“ bezeichnet und behandelt zu werden, ist frustrierend und ermüdend. Dieser Rassismus zieht sich über Generationen; Jugendlichen, deren Groß- oder Urgroßeltern nicht in Österreich geboren wurden, wird auf offener Straße von Unbekannten gesagt, dass sie in diesem Land nur Gäste seien.
Solche Erfahrungen tragen nicht dazu bei, dass sie sich als gleichberechtigte und willkommene Mitglieder der Gesellschaft sehen. An den Rand gedrängt, formen sich eigene Gruppen, die anfälliger dafür sind, von türkisch-nationalistischem Gedankengut überzeugt zu werden.
Thomas Rammerstorfer sagt dazu: „Es wird einem schon deutlich gezeigt, dass man nicht dazugehört. Man sieht sich selbst benachteiligt und bedroht, ebenso wie das Herkunftsland.“
Vereine und Organisationen, wie zum Beispiel die Grauen Wölfe, nutzen diese Verletzlichkeit aus. Über Social Media, Musik, Bücher, Personen in Vereinen etc. wird vermittelt, dass die Türkei für einen da sei, vom Westen bedroht wird und beschützt werden müsse.
Mangelndes Wissen über die politische Situation in der Türkei – dem in der Schule schon entgegengewirkt werden könnte – tut ein Übriges, um eine Idealisierung des Landes der Vorfahren zu ermöglichen.
Löst eine politische Entscheidung in der Türkei eine Erschütterung des gesellschaftlichen Gewässers aus, schwappen die Wellen bis zu uns und die österreichischen Grauen Wölfe reagieren darauf. So kommt es zu einer immer größeren Kluft in Österreich. In unserer Gesellschaft unwillkommene Gruppen mobilisieren sich gegen das Land, in dem sie leben. Sie kämpfen für eine Idee eines Landes, das es so nicht gibt.
Die Reaktion der Politik
Beschäftigt man sich etwas näher mit der ganzen Thematik, erscheinen die politischen Reaktionen etwas willkürlich zu sein. Der Wolfsgruß wurde verboten, sonst gibt es weniger Gegenmaßnahmen. Auch an wissenschaftlichen Untersuchungen mangelt es. Dr. Çiçek schlägt vor, mehrere Studien zum türkisch-islamistischen Denken durchzuführen: „Es ist unverständlich, weshalb das Untersuchungsfeld trotz der langen türkischen Migrationsgeschichte bisher kaum erforscht wurde.“
Thomas Rammerstorfer bewertet den Umgang der Politik mit den Grauen Wölfen folgendermaßen: „Der war teilweise durch Ahnungslosigkeit, teilweise durch Skrupellosigkeit geprägt. ÖVP, SPÖ und FPÖ haben sich jeweils auf bestimmte Gruppen von Migrant*innen gestürzt, die sie völlig unkritisch zu ihrem Stimmvolk machen wollten bzw. gemacht haben.“
Es ist zu überlegen, ob der politische Erfolg einer Partei auf Kosten der gesellschaftlichen Harmonie gehen sollte.