Im vergangenen Jahr dockten Boote mit knapp 55.000 Geflüchteten aus Afrika und dem Nahen Osten in Spanien, Italien oder Griechenland an. Es wären etliche mehr gewesen, wenn die EU die letzten Schiffe der Seenotrettungsmission nicht abgezogen hätte. Seit 2014 starben über 20.000 Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer auf dem Weg nach Europa. Weil kein klarer Plan für die Verteilung vorliegt, sind viele jener, die es geschafft haben, oft Jahre an den europäischen Grenzen in Lagern wie Moria im Limbus zwischen Leben und Tod gestrandet. Was im Weg steht, ist eine geeinte Antwort. Warum sie jetzt kommen könnte.
Die europäische Überforderung am Anfang der Flüchtlingskrise 2015, im Zuge derer sich über 1,2 Millionen Menschen in 2 Jahren in Richtung Europa aufmachten, malte Bilder von überfüllten Grenzen und überlasteten Behörden. Solche Umstände sind ein gefundenes Fressen für rechtsradikale Demagogen und Populisten, die existenzielle Ängste der Menschen zu instrumentalisieren wissen. Mit Viktor Orban in Ungarn, Andrzej Duda in Polen und Durchbrüchen von rechtspopulistischen Parteien quer durch Europa hat dieser Rand des politischen Spektrums erheblich an Einfluss gewonnen.
Die Menschen der vergangenen Flüchtlingswellen hatten um einiges mehr Glück, als jene in der jetzigen. Nach der sowjetischen Invasion Ungarns wurden 200.000 Flüchtlinge innerhalb weniger Monate auf der gesamten Welt verteilt. Der Vietnamkrieg erzeugte über eine Million und der Balkankrieg vier Millionen Flüchtlinge. Auch diesen humanitären Krisen trat die Welt mit einem geeinten Plan gegenüber.
In der aktuellen Problematik wird der Zusammenarbeit abgeschworen, was zu ethnischem Protektionismus geführt hat. Ungarn hat Zäune an der Grenze zu Serbien hochgezogen und Menschen werden mit minimaler Verarbeitung von Asylanträgen von einem zum nächsten Land gedrängt. Jede Seele, die am Grunde des Mittelmeeres ruht, jede Seele in den Auffanglagern und an den Grenzen Europas, verkörpert nicht nur die menschliche Schande der EU, sondern auch ihre Unfähigkeit, geeinte Antworten auf die großen Probleme unserer Zeit zu finden.
Einen Vorschlag zu einer kollektiven Antwort hat George Soros, ein ungarischer Investor, der Milliarden in progressive Ideen investierte und für Rechte den Kopf der jüdischen Weltverschwörung darstellt, zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015 geliefert. Bis jetzt gibt es überwiegend negative Folgen für Länder, die Flüchtlinge aufnehmen wollen – Integration und Asylverfahren kosten Geld. Soros schlägt vor, positive Anreize für die Länder zu schaffen, die Flüchtlinge aufnehmen – für jede*n Geflüchtete*n sollen dem aufnehmenden Land je 15.000 Euro für die ersten zwei Jahre eines Flüchtlings gegeben werden. Dieses Geld soll die Lebensgrundlage in Form von Wohnen, Bildung und Gesundheitsversorgung sichern.
Ein ökonomischer Grundsatz der EU war es, keine gemeinsamen Schulden aufzubauen, denn gemeinsame Schulden seien ein Wegbereiter für den Verlust von Haltung und Kontrolle der Mitgliedstaaten. Es wurde jedoch nur selten mit dem Gedanken gespielt, dass man durch Schulden Investition für den öffentlichen Raum anregen würde und somit auch in die Zukunft investiert. George Soros’ Plan sieht also genau das Gegenteil der herrschenden Finanzideologie vor – diese finanziellen Anreize für die Länder sollen nämlich mit gemeinsamen Schulden finanziert werden.
Zeitsprung, fünf Jahre später, 2020: Die EU sieht sich mit einer weiteren riesigen Herausforderung konfrontiert – der Coronakrise. Im Juni des vergangenen Jahres einigte man sich am EU-Gipfel auf Aufbaufonds über 750 Milliarden Euro. 390 Milliarden davon sollen direkte Zuschüsse für die Staaten sein. Ab dem Beginn dieses Jahres nimmt die EU für die Finanzierung des Projekts Schulden auf, die vergemeinschaftet werden. Der Mechanismus dieser Maßnahme ist also derselbe, den George Soros in seinem Plan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vorgesehen hatte. Obwohl viele konservative Stimmen in Brüssel auf eine bloße Kurzfristigkeit der gemeinsamen Schulden hoffen, rief EZB-Chefin Christine Lagarde dazu auf, die Praxis à la longue zu verinnerlichen.
Die Coronakrise könnte den Startschuss in eine neue Ära der finanziellen Handhabung der europäischen Union gegeben haben. Doch nicht nur der finanzielle Aspekt könnte eine Renaissance erleben, sondern damit auch die Art, wie man gemeinsam an gesamteuropäische Probleme herangeht. Man darf nur hoffen, dass ein Umdenken stattfindet, denn die Leichen im Mittelmeer und die Menschen in Moria liefern ein erbärmliches Zeugnis für den Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. Die europäische Taktik für das Jahr 2021 lautet Schulden aufnehmen. Um die Institution der EU wieder legitim zu machen und haarsträubendem Leid ein Ende zu setzen, muss man auch etwas anderes aufnehmen – nämlich Flüchtlinge. Und zwar so schnell wie möglich.
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