Jazz ist heute unmittelbar verbunden mit eloquenten Gesprächen und gutem Essen – für kulturbewusste Menschen also eine Unumgänglichkeit. Dieses konservative Klischee wird allerdings den Grundprinzipien des Jazz nicht gerecht. Es liegt in dessen Natur, sich ständig weiter zu entwickeln, Normen zu brechen und vor den Kopf zu stoßen. Aus diesem Kontrast wird die Frage immanent: Ist Jazz tot?
Einleitend muss ein pseudobelehrender Überblick der Jazzgeschichte herhalten. In aller Kürze:
Aus den Ursprüngen von Ragtime und Blues, also dem Aufeinanderprallen von afrikanischer und europäischer Musiktradition, entstand im frühen 20. Jahrhundert ein Musikstil, der zunehmend an Popularität gewann. In der Kriegs- und Nachkriegszeit war Jazz der Gegenpol zur Spießigkeit und wurde als Unterhaltungsmusik zum Tanzen gespielt. Es entstanden Schlager/Pop Hits, die später den Namen Jazz-Standard tragen sollten. Ab den 40er Jahren entwickelte sich mit der Entstehung des Bebop ein Zweig des Jazz, der versuchte, sich als intellektuelle Konzertmusik zu etablieren, als Gegenpol zu den Tanzorchestern (Swing Big Bands). Damit war der Weg für die restliche Geschichte des sich ständig neu erfindenden Jazz geebnet. Es entstanden unterschiedlichste Ausformungen, Cool Jazz, Hard Bop, Modal Jazz, u.ä. Um 1970 wurde dann durch die Verbindung von Elementen aus Rock und Jazz die Entwicklung des Fusion eingeleitet. Prinzipiell fällt unter diesen Begriff eigentlich alles, was Traditionen des Jazz mit anderen Genres verbindet. Der Wille sämtliche Grenzen und Erwartungshaltungen zu sprengen, erreicht einen nie wieder da gewesen Höhepunkt.
Und dann?
Die Entwicklungen im Fusion finden immer wieder neue, interessante Projekte wie Chick Coreas Electric Band, Weather Report, Pat Matheny Group und viele mehr, von denen besonders Popularmusik-Studierende bis heute zehren. Um den Tod von Miles Davis 1991 – zu diesem Zeitpunkt liegen die ersten Erscheinungen dieses Genres bereits 20 Jahre zurück – scheint allerdings ein Zenit erreicht. Neue Genrebezeichnungen sucht man weitgehend vergebens. An vielen Hochschulen, besonders im europäischen Raum, wird der Jazz des letzten Jahrhunderts, besonders die Bebop-Ära als strikte Schule gelehrt und gilt als alternativlose Blüte der Popularmusik. Was ist aus der lebendigen Szene geworden, die das ständige Voranschreiten propagierte und diese Blüten letztlich hervorgebracht hat?
Neue Klangsprache für die gleiche Musik
Die Akademisierung des Jazz hat natürlich nicht nur Nachteile. Der Überfluss an hochkaretigen Musiker*innen schafft eine Vielzahl an großartigen Projekten und Produktionen. Technische Fortschritte in der Produktionstechnik und Soundeinflüsse aus anderen, teilweise neuen Genres der Popularmusik sorgen für Frische. Ein wichtiger Vertreter des „modernen“ Fusion ist zum Beispiel das zweifach Grammy ausgezeichnete Musiker*innen-Kollektiv Snarky Puppy.
Der Pianist Tigran Hamasyan schafft mit seiner Musik, dem Begriff Fusion gerecht werdende Stücke aus Einflüssen unterschiedlichster Musik. Es finden sich unter anderem Elemente aus modernem Metal, elektronischer Musik und armenischer Volksmusik.
Musikalische Vielfalt gibt es im modernen Jazz also durchaus. Das Gefühl etwas wirklich Neues zu hören, bleibt aber meistens aus. Letzten Endes wird immer wieder dieselbe Idee aus den 1970ern aufgegriffen, was das Etablieren eines neuen Genrebegriffs im Jazz nicht rechtfertigt.
Die Falle des Genres
Aber bedeutet dass, das Jazz tatsächlich tot ist? Als Genrebegriff, innerhalb dessen sich neue Entwicklungen herausarbeiten, die zu neuen Subgenres führen, vielleicht ja. Aber als wichtiger Impulsgeber für immer mehr neue und interessante Musik bestimmt nicht. Der Kurzschluss, dass es im Jazz seit der Entstehung des Fusion keine neuen maßgeblichen Entwicklungen gab, liegt teilweise in der Idee von Fusion selbst.
Neue Strömungen entstehen nunmal nicht einfach aus dem Nichts. Die Verknüpfung unterschiedlicher Einflüsse, also die „Fusion“, ist ein fundamentales Prinzip der Stilgeschichte von Popularmusik. Demgegenüber steht allerdings auch, dass der Jazz des 20. Jahrhunderts maßgeblich Einfluss in Popgenres gefunden hat, die nicht unmittelbar mit Jazz in Verbindung gebracht werden. In vielen Stilistiken, nicht zuletzt, da Jazz eine so wichtige Rolle im akademischen Werdegang von Popularmusiker*innen gewonnen hat, wird sich heute ganz bewusst aus Stilmitteln des Jazz bedient. Daraus sind unter anderem auch neue Genres entstanden, wie zum Beispiel dem Neo Soul, der aber meist nicht dem Jazz als Übergenre zugeordnet wird. Ein anderes Beispiel sind Entwicklungen im modernen Metal, die unter anderem im Begriff Progessive Metal zu finden sind.
Metal? Neo Soul? Oder doch Fusion?
Der Künstler Plini zum Beispiel wird in der Regel dem Progressive Metal/Rock zugeordnet. Wäre sein Song „Flaneur“ allerdings von Snarky Puppy herausgebracht worden, würde er wohl das Label Fusion tragen. Er ist übrigens in Kooperation mit dem Pianisten Anomalie entstanden, dessen Musik oft dem Neosoul zugeteilt wird.
Der Genresumpf, in den wir seit Beginn unseres Jahrhunderts geraten sind, macht musikalische Entwicklungen auf den ersten Blick oft undurchschaubar. Meistens sind Fragestellungen des musikalischen Stils, wie zum Beispiel der des Jazz im 21. Jahrhunderts, sehr viel einfacher nachvollziehbar, wenn man sich des Genrebegriffs bewusst mal entledigt, viel möglichst unterschiedliche Musik hört und versucht Gemeinsamkeiten und Einflüsse zu erkennen. Das funktioniert natürlich nur, wenn man sich auch mit Musik des 20 Jahrhunderts befasst.
Ist Jazz tot?
Die konsequente Fortsetzung des Fusion Gedankens, Grenzen zu sprengen, beinhaltet das Relativieren von Genrebegriffen. Die konservative Haltung in der Musiklehre treibt diesen Prozess leider nicht voran. Alternativ könnte auch behauptet werden, alles sei Fusion, was in irgendeiner Form auf Traditionen des Jazz zurückgreift. Jazz als Genrebegriff mag tot sein. Der progressive Geist ist in der heutigen Popularmusik allerdings noch äußerst lebendig.
Gitarre- und Tonmeister-Studium.
Band-member of Full Of Thoughts.
Teilzeit Physikstudent.
Teilzeit politisch aktiv.
Nie wirklich Zeit für die Teilzeit-Aktivitäten...
Hi Patrik!
Ich schätze es dass überhaupt junge Leute über Jazz schreiben, danke also.
Ich bin seit 35 Jahren professioneller Jazzmusiker.
Der Jazz ist gefühlt von 10 Kritikern oder heutzutage Bloggern ins Grab gewandert.
Und lebt doch noch.
Lustig – gerade dass der Jazz nicht todzukriegen ist regt viele auf.
Aucch ein Qualitätsmerkmal.
Wenn du dich mal mehr in die Materie hineintauchst wirst Du sehen dass es ein nie endender Kosmos ist. Und wenn dei Jazz langweilig ist – erfinde ihn neu!
DAS ist das Geheimnis m Jazz. So war es immer.
LG Christian