Titelbild: © Paul Garaizer / Unsplash
Nach dem brutalen Mord an Sarah Everard demonstrierten Frauen im Zeichen von #Reclaim these Streets in mehreren Städten für ihr Recht auf Sicherheit im öffentlichen Raum. Statistisch gesehen liegt der gefährlichste Ort für Frauen, Opfer einer Gewalttat zu werden, weiterhin im Privaten, dennoch ist es vor allem der nächtliche Heimweg, der Angstgefühle auslöst. Eine geschlechtersensible Stadtplanung kann Frauen helfen, ihren Platz auf den städtischen Straßen zurückzuerobern – doch sie hat ihre Grenzen.
Im Eiltempo passieren wir die Straßen. In der geballten Faust ein Schlüsselbund, jedes seiner Elemente einzeln zwischen den Fingern. Das Handy griffbereit in der Jackentasche. An jedem nicht einsehbaren Hauseingang schlägt unser Herz für einen Moment etwas schneller. Jede Hecke, jedes Auto, jede uns entgegenkommende Person wird von unseren Blicken gescannt. Immer achthabend, immer bereit zu reagieren, wenn uns unser Bauchgefühl das entscheidende Warnsignal gibt.
„We aren’t born doing this stuff, we learn over years of watching women’s trauma play out“
Sophie Gallagher
So beschreibt ein viral gegangener Twitterpost die geteilte Erfahrung von Frauen*, Queers, Nichtbinären und Transpersonen, welche beinahe täglich von Gewalt und sexistischen Übergriffen bedroht und betroffen sind. Nach dem Verschwinden der 33-jährigen Sarah Everard am 03. März 2021 auf ihrem Heimweg im Süden Londons, kam es zu einer Welle an Solidaritätsbekundungen und Debatten um die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum. In den folgenden Tagen und Wochen fanden wir uns auf den Sozialen Medien vor einem ruhelosen Newsfeed wieder, mit Tausenden, die ihre eigenen Geschichten und Tipps zum Selbstschutz teilten.
Nicht alle Männer, aber beinahe alle Frauen
Es sind Geschichten über unerlaubte Berührungen, sexistische Bemerkungen oder Catcalling, über Autos, die einen verfolgen, Männer, die einem den Weg versperren und es nicht akzeptieren wollen, dass man kein Interesse hat, Geschichten von sexuellen Übergriffen und Gewaltanwendungen. Viele dieser Erfahrungsberichte haben gemein, dass sie von den Betroffenen häufig zum ersten Mal erzählt wurden. Die Belästigung und Bedrohung auf den Straßen ist für die meisten von uns ein fester Bestandteil unseres Alltags. Sie ist so allgegenwärtig, dass wir ihr oft kaum mehr Beachtung entgegenbringen. Sie ist so wiederkehrend, dass wir sie oft schon verdrängen, unmittelbar nachdem sie geschehen ist.
Der Mord an Sarah Everard hat ohnehin schon brodelnde Gefühle von Angst und Wut über sexualisierte Gewalt und die Tatenlosigkeit des Staates zum Überkochen gebracht. Gefühle, denen in den Sozialen Medien mit dem Hashtag #Notallmen („Nicht alle Männer“) begegnet und notdürftig versucht wird, ihnen einen Deckel aufzudrücken. Es sind tatsächlich bei Weitem nicht alle Männer, die zu Tätern werden. Aber es sind beinahe alle Frauen, die schon einmal zu Opfern solcher Taten wurden.
Die Straßen zurückerobern
Dass in den Medienberichten über den Fall Everard immer wieder betont wird, sie hätte doch „alles richtig gemacht“ – den Weg über die frequentierte Hauptstraße genommen, auffällige Kleidung getragen und ihren Freund telefonisch über ihren Heimweg informiert – zeugt von einem gesellschaftlichen Bild, in dem Opfern von Gewalt zumindest ein gewisses Maß an Mitschuld zugesprochen wird. Es scheint, als wäre es die alleinige Verantwortung von Frauen, für ihre Sicherheit zu sorgen, wenn sie sich alleine im öffentlichen Raum bewegen. Vor allem sogenannte „Angsträume“, also etwa die unbelebte Gasse, den unbeleuchteten Park oder die verwinkelte Tiefgarage gilt es dabei zu meiden.
Dennoch: „Angsträume sind keine Tatorte. Es geht um das subjektive Sicherheitsgefühl“, erzählt uns die Stadtplanerin Eva Kail, die sich seit über 30 Jahren für eine Geschlechterperspektive im Städtebau und in der Stadtplanung der Stadt Wien einsetzt. Statistisch gesehen ist der gefährlichste Ort für Frauen, von körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen zu sein, weiterhin das eigene Zuhause. Es ist weitaus wahrscheinlicher, dass der Ehemann oder (Ex-)Lebensgefährte zum Täter wird, als dass es der in den Büschen lauernde unbekannte Mann ist. Im Gegenteil zeigen Kriminalstatistiken, dass sich Gewalt im öffentlichen Raum überwiegend gegen junge Männer richtet. (In dieser Gruppe sind auch die Täterzahlen am höchsten). „Aber die fürchten sich nicht und schränken auch deshalb ihre Mobilität nicht ein, während etwa unter älteren Frauen der Außerhaus-Anteil spätabends stark zurückgeht“, so Kail.
In diesem Kontext bedeutet #Reclaim these Streets also auch, dass wir uns nicht weiter aus Angst vor einem Übergriff in unserer Bewegungsfreiheit begrenzen wollen. Es bedeutet, dass wir als Frauen kollektiv Platz einnehmen wollen im öffentlichen Raum, der von der Gesellschaft weiterhin zu einem großen Teil den Männern zugesprochen wird.
Stadtplanung kann helfen – aber nur bedingt
Dass Männer und Frauen unterschiedliche Bedürfnisse bei der Nutzung öffentlichen Raumes haben, wird in der modernen Stadtplanung, unter anderem auch durch die Arbeit geschlechtssensibler Planer*innen wie Eva Kail, zunehmend mitgedacht. Hier kann vor allem die gezielte Beleuchtung und Belebung öffentlich genutzter Räume das Sicherheitsgefühl erhöhen. So geht es etwa bei der Straßenbeleuchtung mittlerweile auch darum, die Gesichtserkennbarkeit auf eine bestimmte Distanz zu gewährleisten, während sie früher hauptsächlich darauf ausgerichtet war, mögliche Stolpergefahren auf der Straße auszuschließen. Auch der Effekt der sozialen Kontrolle spielt eine Rolle, etwa in Form des Einsatzes von Überwachungskameras in U-Bahn-Stationen oder indem Aufenthaltsräume von Gebäuden zur Straße hin geplant werden. „Das Sicherheitsgefühl wird erhöht, wo beleuchtete Fenster zu sehen sind, wo man das Gefühl hat, da kriegt jemand mit, was sich auf der Straße abspielt, da schaut jemand hinunter.“
Doch auch wenn durch Stadtplanung einiges unternommen werden kann, um Angsträume zu reduzieren, hängt die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum mit breiter gefassten gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. „Wenn es keine Zivilcourage gibt, dann hilft auch die beste Beleuchtung nichts.“ Hierfür benötigt es weitreichende Sensibilisierungsmaßnahmen und einen kulturellen Wandel patriarchaler Herrschaftsverhältnisse. Dieser beginnt nicht erst beim Thema Gewalt, sondern bereits bei jenen „Grauzonen“ sexueller Belästigung auf der Straße, in der Bar oder am Arbeitsplatz, die nur selten zur Anzeige gebracht werden und damit in den Kriminalstatistiken nicht aufscheinen. Die Verantwortung dafür liegt nicht nur bei Justiz und Politik, sondern bei jedem Einzelnen.