Weil es jede Woche etwas gibt, das nach dem kleinen bisschen Meinung verlangt. Weil wir finden, dass frech und vorlaut immer besser ist als zahm und gefügig. Deshalb gibt unser Chefredakteur Max Bell kurz vorm Wochenende seinen Senf dazu. Er mischt sich ein, überall und immer. Damit wir wissen, was war, was ist und welche Themen ruhig noch ein bisschen (vor)lauter sein dürfen. Diese Woche: Trump, Realitätsverweigerung und der Tod der US-Demokratie.
Die erste US-Präsidentschaftsdebatte zwischen Biden und Trump zeigte besonders deutlich, wie sehr die USA einem Betrüger auf den Leim gegangen sind. Trump war noch lauter als gewohnt und bemühte sich nicht einmal ansatzweise um moderate Wähler. Er tat, was er gut kann: Unwahrheiten behaupten, untergriffig sein und vor allem Angst verbreiten.
Was treibt Menschen also dazu, einen Menschen zu wählen, der behauptet, er sei der „most stable genius“, aber täglich demonstriert, dass er alles, nur nicht stabil ist. Es muss wohl daran liegen, dass Trump eine gute Geschichte erzählt. Eine Geschichte davon, dass alle auf seiner Seite Gewinner sind. Und wer ist nicht gerne ein Gewinner?
Das Privileg, in der selbsternannten „Greatest Nation on Earth“ zu leben, entpuppt sich als Fluch. Als Amerikaner*in scheint man, ähnlich dem Stockholm-Syndrom, gezwungen zu sein, Trumps Lügen zu glauben – denn was wäre die Alternative? Dass man in einer demokratiepolitischen Einöde lebt, in der ein Reality TV-Starlet als Präsident macht, was immer ihm gefällt, den Tod von Tausenden Menschen in Kauf nimmt, die Gesellschaft immer weiter spaltet, während der Kongress die Verfassung mit Füßen tritt, um Trump an der Macht zu halten?
In so einem Land will wohl keiner leben. Also bleiben viele in ihrer Scheinwelt, in der Amerika einfach „great“ ist, weil es eben „great“ ist. Aus einer Sekte auszusteigen ist schließlich auch nicht leicht. Als eine solche beschrieben einige Aussteiger, unter anderem der ehemalige Trump-Anwalt Michael Cohen, das Umfeld des Präsidenten. Trumpismus ist keine politische Ausrichtung, es ist eine Religion.
Denn wer nach der Covid Epidemie, dem Russland Skandal und der gescheiterten Grenzmauer immer noch glaubt, dass der Präsident so viel gewinnt, dass er „tired of winning“ ist, lebt tatsächlich in einer Traumwelt. Trumps Amerika ist voll von Rassismus, gescheiterter Gesundheitspolitik und himmelschreiender Ungerechtigkeit. Wären es nicht die USA, über die wir da sprechen, würde man wohl weltweit Embargos in Betracht ziehen, wenn ein Staatschef Wahlen schon im Vorhinein als Betrug bezeichnet. Aber Trumps Anhänger glauben auch diese Lüge. Warum? Weil sie eben glauben.
Wenn Trump also eine Art Sektenführer ist, dann könnte im Oktober Schlimmes drohen. Jene rechtsradikalen Milizen, von denen sich Trump nicht distanzieren will, sind so tief in der Delusion gefangen, dass sie wohl tatsächlich für „ihren“ Präsidenten zu den Waffen greifen würden. Das mag aus europäischer Perspektive absurd klingen, ist aber in einer Zeit, in der zwischen dem US-Präsidenten und einem Aluhut-Verschwörungstheoretiker nicht immer klar zu unterscheiden ist, nicht mehr so abwegig.
Die US-Demokratie ist schon lange instabil, Jahrzehnte des Zweiparteiensystems und ein ungerechtes Wahlsystem haben ihr Fundament ausgehöhlt. Sollte Trump die Wahl, die er vermutlich verlieren wird, nicht annehmen, könnte das den Todesstoß für die „Greatest Democracy on Earth“ bedeuten. Selbst wenn alles friedlich über die Bühne gehen und Joe Biden Präsident werden sollte, wird der Trumpismus tiefe Narben in der amerikanischen Gesellschaft hinterlassen – denn wer einmal den gesunden Menschenverstand über Bord geworfen hat, der tut das auch wieder.
Comitted to the best obtainable version of the truth.