Weil es jede Woche etwas gibt, das nach dem kleinen bisschen Meinung verlangt. Weil wir finden, dass frech und vorlaut immer besser ist als zahm und gefügig. Deshalb gibt unser Chefredakteur Max Bell kurz vorm Wochenende seinen Senf dazu. Er mischt sich ein, überall und immer. Damit wir wissen, was war, was ist und welche Themen ruhig noch ein bisschen (vor)lauter sein dürfen. Diese Woche: Wie Kälte die öffentliche Meinung beherrscht. Und damit Wahlen gewonnen werden.
„Wir müssen diese Debatte entemotionalisieren.“ Ich soll mich nicht aufregen. Nicht aufregen, wenn Flüchtlingslager brennen, nicht aufregen, wenn Menschen im Mittelmeer ersaufen, nicht aufregen, wenn Mitglieder einer Bundesregierung meinen, sie müssten Routen schließen, damit Menschen, die Schutz und Hilfe suchen, diese nur ja nicht bekommen. Und dann? Wenn wir alle abgekoppelt von jeder menschlichen Regung existieren, wie Außenminister Schallenberg, von dem das Zitat weiter oben stammt, es vielleicht gerne hätte. Wenn es uns egal geworden ist, wenn Menschen leiden, was dann?
Ich hätte viel lieber über die Wien-Wahl geschrieben, oder über die Kulturszene, die langsam wieder aufsperrt. Aber die hässliche Fratze der politisch motivierten Unmenschlichkeit, die in Österreich jedes Mal wieder auftaucht, wenn es auch nur peripher um Flüchtlinge geht, zwingt mich zu dieser Kolumne. Nicht, dass es nicht schon gesagt worden wäre, nicht, dass es sich nicht anfühlt wie ein Kampf gegen Windmühlen aus Hass und Hetze, die einfach nicht verschwinden wollen. Wie eine Drehleier muss man wiederholen, dass das, was ÖVP und FPÖ über die letzten Jahre zu normalisieren versucht haben, nicht normal ist. Es geht um 13.000 Menschen, in Perchtoldsdorf leben mehr. Mit solidarischer Verteilung kein Problem für Österreich alleine, geschweige denn für die gesamte Europäische Union.
Für jene die das lesen, die genauso denken, sich also nicht von menschenfeindlicher Rhetorik Angst haben machen lassen, muss das ein Weckruf sein. Nicht mehr Toleranz zu zeigen, wenn jemand Sätze fallen lässt wie „Aber dann wollen ja alle kommen.“ Oder „Ja, Frauen und Kinder schon, aber diese jungen Männer…“. Wer bei solchen Aussagen nicht widerspricht oder es bei einem einfachen „Na so würd ich das nicht sagen…“ belässt, macht sich zum Komplizen einer Verrohung auf dem Rücken notleidender Menschen.
Nach oben buckeln, nach unten treten, scheint die Devise. Zumindest für jene Hälfte der österreichischen Wähler*innen, die ihre „christlichen Werte“ vor sich hertragen, wie eine Ikone aus purer Scheinheiligkeit. Das muss sich ändern. Wie? Fragt mich doch nicht, die Frustration über die soziale Kälte, die um sich greift, sitzt tief. Und das Tragische ist: Die Kalten spüren auch Kälte. Die Kälte, die ihnen entgegenschlägt, wenn sie einmal arm, krank und hilfsbedürftig sind. Sie sind nur nicht fähig zu verstehen, dass es ein und dieselbe Kälte ist, die sie anderen entgegenbringen, wenn sie wählen, was sie wählen.
Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass in Österreich ein Konsens über Menschlichkeit als politisch relevante Größe existiert. Trotzdem, ob in der Familie, im Beruf oder mit Freunden – das Totalversagen der Regierung muss thematisiert werden. Wenn das zu Streit führt, soll es eben so sein. Zumindest kann man dann noch in den Spiegel schauen, wenn alle anderen die Debatte über unsagbares Leid „entemotionalisiert“ haben.
Comitted to the best obtainable version of the truth.