Mein Vater starb, als ich noch nicht lange 20 war. Ich war im zweiten Semester an der Uni. Es war ein ungewöhnlich heißer April damals, 2018. Papa ging ins Bett und wachte am nächsten Tag nicht mehr auf. Von einem Tag auf den anderen wurde meine Mutter zur Witwe und mein Bruder und ich zu Halbwaisen.
Das ist erstmal was Neues. Nachdem der erste Heulkrampf vorbei war, setzte ich mich auf einen Sessel in meinem Wohnzimmer meiner Studentenwohnung in Wien und fragte meinen Freund, was ich denn jetzt machen solle. Was macht man, wenn man gerade erfahren hat, dass sein Vater gestorben ist? Ich hatte geweint, das erschien mir als richtig, meine Mutter sagte am Telefon, ich brauche nicht nach Oberösterreich kommen und ich wollte auch nicht unbedingt in einen Zug steigen. Also saß ich nun da und wusste nicht, was mein nächster Schritt sein sollte. Niemand sagt dir, was zu tun ist, wenn jemand stirbt, es wird selten darüber geredet, niemand bereitet dich darauf vor. Also habe ich mir einen Tee gemacht (hätte Papa wahrscheinlich auch).
Eine Woche später bin ich wieder an die Uni gegangen. Ich habe mit niemandem von meinen Kommiliton*innen darüber gesprochen. Ich habe gelernt, ich habe geweint, ich habe unruhig geschlafen. Dann kamen die Sommerferien. Ich kann mich an fast nichts in diesem Sommer erinnern, außer dass ich einmal nicht mehr aus dem Auto aussteigen konnte, weil es zu anstrengend war. Alles war anstrengend. Essen war anstrengend, reden war anstrengend. Im Nachhinein betrachtet ist mir klar, dass es mir sehr schlecht ging. Aber ich wollte nicht die trauernde Marie sein, ich wollte niemandem zur Last fallen mit meiner Trauer, niemanden runterziehen während die Sonne am Himmel strahlte.
Es war schlimm, dass mein Vater gestorben war, und es wurde dadurch schlimmer, dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Dadurch, dass das Thema Tod so verschwiegen wird, hat man nicht nur keine Ahnung, wie man damit umgehen soll, sondern auch das Gefühl, man dürfe nicht darüber reden.
Ich mag es nicht, wenn ich erzählen muss, dass mein Vater gestorben ist. Nicht, weil es so schmerzhaft wäre es auszusprechen, sondern weil ich nicht will, dass andere Leute deshalb traurig werden.
Eineinhalb Jahre später habe ich bei einer Therapeutin angerufen, weil ich im Rahmen meiner Psychotherapieausbildung sowieso eine Therapie machen muss. Ich dachte, ich hätte die Trauer schon überwunden und käme mit dem Verlust meines Vaters ganz gut zurecht.
Nach nicht mal fünf Minuten in der ersten Einheit begann ich zu weinen und erzählte meiner Therapeutin alles: wie ich mich damals fühlte, dass ich immer noch oft von ihm träume.
Bei ihr hatte ich das erste Mal das Gefühl, ich dürfe davon erzählen. Der Tod ist in einer Therapeutenpraxis kein Tabuthema. Ich wusste, dass sie damit umgehen kann, dass ich sie nicht gleich werde trösten oder beruhigen müssen, wenn ich davon erzähle. Sie reichte mir wortlos ein Taschentuch und ließ mich weinen.
Die Einheiten danach verliefen ähnlich. Ich wollte es schon überwunden haben, habe es aber eigentlich nur ignoriert und verdrängt. Zuerst tat es sehr weh, darüber zu reden, und dann wurde es besser. Papa kam nicht mehr so oft in meinen Träumen vor, ich fing nicht mehr an zu heulen, wenn in Filmen jemand starb.
Ich habe Tabuthemen noch nie verstanden. Ich verstehe nicht, warum man nicht über Geld reden darf und warum Sex nur zum Thema wird, wenn genug Alkohol geflossen ist. Ich kann nachvollziehen, dass der Tod ein sehr unangenehmes Thema ist, das Gefühle wecken kann, die man lieber nicht hätte. Aber jeder von uns wird sterben und jeder wird miterleben, dass ein geliebter Mensch stirbt.
Ich wurde von allen Seiten mitfühlend angelächelt, aber kaum jemand gab mir das Gefühl, ich dürfe jetzt offen darüber reden, wie scheiße ich das alles fand. Ich hätte ja auch nicht gewusst, wie ich darauf reagieren soll, wenn ich an deren Stelle gewesen wäre. Wie soll man das auch wissen, wenn niemand darüber spricht. Im Religionsunterricht wurde der Tod ein wenig thematisiert, aber mehr in der Form, was danach kommt. In Psychologie wurden die fünf Phasen der Trauer von Elisabeth Kübler-Ross besprochen, diese beziehen sich aber auf die Gefühle eines Sterbenden.
Nie kam jemand zu uns und sagte: „Es ist schrecklich, aber irgendwann werden eure Eltern sterben, wir reden da jetzt drüber. Was würdet ihr euch wünschen, dass man zu euch sagt, wenn ihr jemanden verliert? Was würdet ihr zu anderen sagen, um sie zu trösten? Was könnte man machen?“
Von allen Dingen, die man in der Schule lernen könnte, die im „echten Leben“ wichtig wären, wäre das eines der wichtigsten. Während meiner Schulzeit habe ich erlebt, dass Elternteile sterben, Omas, Opas, Verwandte, ehemalige Klassenkolleg*innen, andere Klassen haben Mitschüler*innen verloren. Nie wurde darüber gesprochen. Es waren ein paar Tage unangenehmes Schweigen auf allen Seiten und dann zurück zur Normalität.
Ein Freund von mir hat einfach die Wahrheit gesagt: „Marie, ehrlich, ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.“ Und das war genau das Richtige. Ich hatte keinen Plan, wie ich reagieren soll und er auch nicht. Damit war ich wenigstens nicht mehr alleine mit meiner Planlosigkeit. Ich habe gelernt, dass es für manche Situationen einfach keine richtigen Worte gibt und genau das würde ich dann sagen:
„Ich weiß, es ist schrecklich und keines meiner Worte kann dir deinen Schmerz nehmen. Aber ich kann zuhören oder mit dir schweigen, und irgendwann wird es besser werden.“
Titelbild: (c) K. Mitch Hodge / unsplash.com
Studium der Astrophysik. Psychotherapeut*in to be.