Titelbild: © Paula Rossi
Seit nun mehr als zwei Monaten halten Aktivist:innen das Protestcamp gegen den Bau der Stadtstraße Aspern und des Lobautunnels besetzt. Es ist ein Kräftezehren zwischen Politik und Zivilgesellschaft, das der Frage nach zukunftsfähiger Stadtentwicklung neues Gewicht gibt. Wir waren vor Ort, um mehr über die Proteste zu erfahren und mit den Aktivist:innen zu sprechen.
Anfang Oktober in Wien Donaustadt. Wir können unsere Jacken ausziehen, so warm ist es, als wir uns an diesem Herbstnachmittag auf den Weg in das Basislager des Protestcamps machen. Schon von weitem sehen wir die vielen bunten Zelte. Hier und da ist eine Hängematte zwischen den Bäumen gespannt, in einer davon liegt jemand und liest. Währenddessen wird auf ein paar Biertischen bereits an dem Gemüse für das Abendessen geschnippelt. Nach eineinhalb Jahren Pandemie kommt bei dem Anblick beinahe Festivalgefühl bei uns auf. Dennoch wird schnell klar, dass hier niemand da ist, um einfach einmal für drei Tage dem stressigen Alltag zu entfliehen. Hinter den Zelten ein Zaun, mit Blick auf ein weitläufiges Feld. Genau hier verläuft die Trasse der sechsspurigen Stadtstraße Aspern. Sie soll die Seestadt Aspern bald an die Wiener Außenring-Schnellstraße S1 anbinden. Ein Teil dieses Projekts – ein Tunnel unter dem Nationalpark Donau-Auen in der Lobau.
Bei der Lobau-Autobahn handelt es sich um mehrere große Straßenbauprojekte, die in den kommenden Jahren in Wien bzw. dem Wiener Umfeld umgesetzt werden sollen: die Stadtstraße Aspern, die S1 Wiener Außenring Schnellstraße zwischen Schwechat und Süßenbrunn und die Spange Aspern, die Stadtstraße und S1 verbinden soll. Als Teil der geplanten Nordostumfahrung soll ebenfalls ein rund 8,2 Kilometer langer Tunnel gebaut werden, der unterhalb der Lobau, Teilgebiet des Nationalparks Donau-Auen, verlaufen wird.
Es ist ernst. Auch wenn das Projekt Lobau-Autobahn seit Anfang Juli auf die Beendigung der Umweltverträglichkeitsprüfung durch Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) wartet, befinden sich die Aktivist:innen im Camp in einem andauernden Alarmzustand. Die ersten Spatenstiche zur Stadtstraße Aspern wurden bereits getätigt, jeden Moment könnte es zu der entscheidenden Genehmigung kommen, das Bauvorhaben Lobau-Autobahn weiterzuführen.
Was bisher geschah…
Bereits Mitte Mai hatte Lena Schilling, Sprecherin des Jugendrats (parteiunabhängige Organisation zur politischen Partizipation junger Menschen), ein „Zweites Hainburg“ angekündigt, sollte mit dem Bau der Lobau-Autobahn tatsächlich begonnen werden. Damit bezieht sie sich auf die Besetzung der Hainburger Au durch Umweltaktivist:innen im Dezember 1984, durch die nicht nur der Bau eines Wasserkraftwerks verhindert werden konnte, sondern auch einen Meilenstein des heimischen Umwelt- und Demokratieverständnisses markierte.
Am 27. August war es dann so weit. In gemeinsamer Sache riefen unterschiedliche Organisationen wie der Jugendrat, Fridays for Future, Extinction Rebellion, System Change not Climate Change und einige Bürger:inneninitiativen zum Protest auf. Spätnachmittags startete dieser zunächst mit einer Demo von der U2-Station Hausfeldstraße bis zu einem strategisch gut gelegenen Park in der Anfanggasse in Hirschstetten, wo erstmals die Zelte aufgeschlagen wurden. Vom angemeldeten Basiscamp aus erfolgte einige Tage später die Besetzung von insgesamt drei Baustellen der ASFINAG und der Stadt Wien auf dem Verlauf der geplanten Stadtstraße Aspern und die Beschlagnahmung eines Baufahrzeuges. Mit der Besetzung konnte ein vorübergehender Baustopp erzwungen werden. Im Rotationsmodus wechseln sich die Aktivist:innen seither ab, damit zu jeder Tages- und Nachtzeit zumindest zwei Personen die Stellung halten. Die Message ist eindeutig: „Wir sind gekommen um zu bleiben“ – solange bis das Projekt Lobau-Autobahn Geschichte ist.
Zelten gegen den Rückschritt
Während wir auf unsere Begleitperson Friedrich-Janine warten, der uns an diesem Tag eine Führung über die Trassen der geplanten Stadtstraße Aspern und die unterschiedlichen Camps geben wird, haben wir Zeit, uns im Basislager umzusehen. Auf einen kurzweiligen Aufenthalt deutet hier nichts hin, aus einem provisorisch eingerichteten Unterkunftsort hat sich mittlerweile eine kleine „Zeltstadt“ entwickelt. Im Verlauf der letzten Wochen wurde ein eigenes Küchenzelt eingerichtet, es gibt eine kleine Fahrradwerkstatt, ein mit gemütlichen Sitzgelegenheiten eingerichteter Pavillon wird liebevoll als das „Wohnzimmer“ bezeichnet und zur Verrichtung der Notdurft wurden von den Wiener Grünen zwei „Öklos“ für das Camp bereitgestellt.
Im Herzen des Basiscamps: eine Feuerstelle umgeben von Bierbänken. Hier finden sich die Aktivist:innen jeden Abend zum gemeinsamen Plenum ein, wo die Aufgaben verteilt werden, die weitere strategische Vorgehensweise geplant, musiziert oder manchmal auch bis zu späterer Stunde von einer gerechteren und grüneren Welt geträumt wird. „Die mündliche Kommunikation ist hier im Camp extrem wichtig“, erzählt uns Aktivistin Wanda beim Infostand. Im Camp kommen unterschiedlichste Menschen aller Altersstufen und verschiedenster Hintergründe zusammen. Viele gehen tagsüber ihrer Ausbildung oder ihren beruflichen Aktivitäten nach. Vom Camp geht es morgens direkt in die Vorlesung oder die Schule, nachmittags wird zwischen Bäumen auf den Bierbänken gelernt. Was bewegt sie, dieses aufreibende Doppelleben auf sich zu nehmen? Es sei vorallem das Gefühl, von der Politik nicht ernstgenommen zu werden, die Wut darüber, dass die eigene Zukunft so leichtfertig verspielt wird: „Demos und Petitionen sind zwar wichtig, weil sie niederschwellig sind, weil die Leute da einfach mitmachen können – aber sie lassen sich auch leichter ignorieren. Ich denke, wir sind an einem Punkt in der Klimapolitik, in der außer Zivilem Ungehorsam nichts mehr funktioniert.“ erzählt sie uns.
Auf den Spuren von Hainburg
An diese Worte werden wir uns an diesem Tag noch öfter erinnern, während uns Friedrich-Janine entlang der Trasse der geplanten Stadtstraße durch Hirschstetten führt. Die Baupläne der Stadtstraße Aspern kennt er so gut wie wohl kaum jemand anderer im Camp. Die detailgetreuen Erklärungen machen es einfach, sich mehrspurige Schnellstraßen, Starkverkehr und Autolärm an Orten vorzustellen, wo jetzt eine Allee, ein Park, ein Feld, eine Wohnsiedlung ist.
Wir stehen nun inmitten des ersten Grätzls „Octopussys Garden„, die Besetzung einer Baustelle der ASFINAG am nordwestlichen Beginn der Stadtstraße Aspern. Im Rahmen der Beschlagnahmung am 30.08. haben mehrere Aktivist:innen, manche von ihnen erst 13 Jahre alt, eine Sitzblockade vor den Absperrgittern der Baustelle gestartet und damit die Einfahrt von Bauarbeiter:innen und Fahrzeugen verhindert. Auf der schon aufgeschütteten Erde der Verbindungsrampe zwischen Stadtstraße und Hirschstettnerstraße stehen nun bunte Zelte. Der Holzverschlag am Eingang des Camps wurde bereits mit Plexiglas für einen wohl längeren Aufenthalt winterfest gemacht.
„Wir müssen verhindern, dass die Zukunft junger Generationen zubetoniert wird“, erzählt uns Friedrich-Janine. Er selbst hat sich vor knapp zwei Jahren vollzeitlich dem Klimaaktivismus verschrieben. Für ihn war es auch ein Weg, aus einem Gesellschaftssystem auszubrechen, in dem er nie so wirklich das Gefühl hatte, seinen Platz zu finden. Der Wunsch Klimaaktivist zu werden, entstand bei ihm, nachdem er die Stellungnahme einer Aktivistin während der Räumungsaktion eines Protestcamps gegen Abholzungen im Hambacher Forst in Deutschland auf Youtube gesehen hatte. Unter Tränen erzählte besagte Aktivistin von einem Gemeinschaftsgefühl in dem Camp, in dem alle Materialitäten und Objektivitäten – wie man aussieht, woher man kommt, wie viel Geld man hat – unter dem gemeinsamen Ziel keinerlei Bedeutung mehr hatten. „Als ich mir dieses Video ansah, dachte ich mir: Dieses Mädchen weint da dieselben Tränen aus, die du schon seit Jahren nicht mehr schaffst auszuweinen.“
Gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite das zweite Grätzl „Oase“ – eine Anspielung auf die vielen Pflanzen, die Aktivist:innen mitgebracht haben, um es sich in der Tristesse des Bauschutts etwas wohnlicher zu machen. Von einem der Aktivisten vor Ort, werden wir gleich eingeladen in einem der Gemeinschaftszelte kurz Rast zu machen und wir haben die Möglichkeit ihn über den aktuellen Stand auszufragen. Er wirkt müde. In den letzten Wochen sei es schwierig gewesen, die Besetzungsmannschaft auf der Baustelle aktiv zu halten. Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Organisationen im Lobau-Protestcamp gestaltet sich teilweise nicht einfach, erzählt er uns. Man hat das Gefühl, sich zerreißen zu müssen, zwischen dem Aktivismus und den alltäglichen Pflichten in der Ausbildung, im Beruf, in der Familie. „Ohne die Hilfe von Anrainer:innen wird es auf Dauer schwierig werden, die Besetzungen aufrechtzuerhalten. Doch Anrainer:innen denken nicht an Mittel des zivilen Widerstandes, auch wenn es sehr wohl ein legitimes demokratisches Mittel wäre, gerade jetzt, wenn es die Dringlichkeit der Lage erfordert.“
Zwischen Stadtentwicklung und Klimaschutz
Auch wenn die Debatte um die Lobau-Autobahn gerade jetzt verstärkt hochkocht, wurzelt diese in einem seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt zwischen Stadtentwicklung und Klimaschutz, wie uns Friedrich-Janine erzählt. Bereits im Jahr 2005 wurde die mit rund 1,9 Milliarden veranschlagte Nordostumfahrung S1 zwischen Schwechat und Süßenbrunn, mitsamt der Lobau-Untertunnelung, von der alleinregierenden SPÖ beschlossen. Das Straßenbauprojekt verspricht einen besseren infrastrukturellen Anschluss für die wachsende Bevölkerung in den Bezirken Floridsdorf und Donaustadt sowie des nordöstlichen Wiener Umlands und eine Entlastung von Verkehrswegen in Wohngebieten. Seit Beginn der Planungsphase erheben sich aber Stimmen unter Umweltschützer:innen, die in dem Bau der Lobau-Autobahn einen massiven klimapolitischen Rückschritt erkennen. Der Bau des infrastrukturellen Megaprojekts ist mit einem erheblichen Maß an Bodenversiegelung verbunden und angesichts einer zu erwartenden Steigerung der Co2-Emissionen im Raum Wien gänzlich unvereinbar mit den nationalen Zielen der Klimaneutralität bis 2040, so die Besorgnisse. Im Bereich des Nationalparks Donau-Auen sind durch den Tunnelbau hunderte Arten bedroht und Trinkwasserreserven gefährdet.
Und auch aus verkehrsökonomischer Sicht wird das Projekt angezweifelt. Nach einer Analyse der TU Wien sei durch die Nordostumfahrung keineswegs eine Entlastung sondern sogar eine Steigerung des Verkehrsaufkommens um über 83 000 Fahrzeugkilometer pro Tag zu befürchten, da die Lobauautobahn Anreize schaffen würde, von öffentlichen Verkehrsmitteln auf das Auto umzusteigen.
Obwohl der Fokus medialer Berichterstattung zumeist auf Aktionen des Zivilen Ungehorsams liegt, ist es vor allem die Aufklärungsarbeit der Aktivist:innen im Lobau-Protestcamp, die sukzessive zur lokalen Mobilisierung gegen die Lobau-Autobahn beiträgt. Die Führungen entlang der Trasse der geplanten Stadtstraße, so wie wir sie heute von Friedrich-Janine bekommen haben, sind ein wesentlicher Teil dieser Strategie – und sie wirkt. Immer wieder fallen uns in Hirschstetten an Bus- und Straßenbahnstationen Plakate auf, die die Stadtstraße Aspern und den Lobautunnel als Prestigeprojekt für moderne Stadtentwicklung loben. Sie sind Teil einer rund 600 000 € teuren Werbekampagne der Stadt Wien, in der Hoffnung dem Meinungsumschwung gegen den Bau der Lobau-Autobahn unter der Bevölkerung entgegenzuwirken. Mit gelben Aufklebern haben Aktivist*innen die Plakate um Informationen über klimapolitische Folgen des Bauprojektes ergänzt.
„Wir wollen klarmachen, dass Stadtentwicklung nicht gleichbedeutend mit Straßenbau ist. Das ist eine veraltete Denkweise. Wir möchten auch, dass Wohnraum und Infrastruktur entsteht – aber es muss zukunftsfähig passieren.“
Ein Stück Hoffnung inmitten der Wüste
Nach fast vier Stunden Trassenführung erreichen wir unseren letzten Halt – das Grätzl „Wüste„, eine Baustellenbesetzung gleich bei der Station Hausfeldstraße. Der Name hat seine Berechtigung. Im Licht der untergehenden Sonne bekommt dieser Ort fast ein dystopisches Ansehen. Hier fällt es besonders leicht, sich das Flächenausmaß der Versiegelung durch die Stadtautobahn vorzustellen. Vor einigen Monaten hat man bereits damit begonnen, entlang des Streckenverlaufs Boden in einem Durchmesser von etwa 20 Metern abzutragen. Fein säuberlich wurde die Erde in Haufen aufgeschüttet, der Untergrund der Trasse ist trocken und steinig. Am Ende des Feldes liegt eine Straße, dahinter eine Schrebergartensiedlung. Von der Idylle des eigenen kleinen Gärtchens in der Stadt wird wohl wenig übrig bleiben, wenn hier bald direkt angrenzend auf sechs Spuren rund 70 000 Kraftfahrzeuge täglich über die Stadtautobahn brettern.
Aber wie könnte man Stadtentwicklung alternativ denken? Eine Stadt, die zukunftsfähig, gerecht und inklusiv ist – eine Stadt die lebenswert ist? Wanda, die Aktivistin, der wir heute Mittag begegnet waren, hatte hier eine klare Vision:
„Man muss die jetzigen Probleme angehen und sich Alternativen überlegen. Dass man es schafft, Wohnräume zu schaffen und gleichzeitig Grünflächen zu erhalten. Dass sich die Leute möglichst klimaneutral im öffentlichen Raum bewegen können. Ich denke, ein Weg dahin wäre die Stadt der kurzen Wege, in der die Menschen alles was sie brauchen, in unmittelbarer Nähe haben, ohne weite Strecken mit dem Auto zurücklegen zu müssen.„
Eine Sache möchte uns Friedrich-Janine noch zeigen, bevor wir uns von ihm verabschieden. Zwischen Zelten und mit Transparenten verschönerten Baufahrzeugen haben Aktivist:innen einen kleinen Baum gepflanzt. „Wir haben ihm den Namen ‚Hoffnung‘ gegeben„, erzählt er uns. Es ist ein Symbol, dass selbst hier, inmitten der „Wüste“, noch etwas wachsen kann. Ein Symbol dafür, dass man nicht aufgeben sollte, auch wenn die Umstände noch so widrig erscheinen.