Er reicht vom Löschen der Social Media Accounts bis hin zum Leben im Wald, á la Into the Wild: der Anti-Tech Trend. Immer mehr junge Menschen wenden sich ab von moderner Technologie, benutzen Klapphandys und laden ihre Lana Del Rey Alben wieder auf den iPod. Woher kommt das?
Seit der industriellen Revolution entwickelt sich die moderne Welt rapide weiter, es scheint, als ob jeden Tag neue technische und digitale Revolutionen stattfinden. Fast jede alltägliche Situation involviert inzwischen moderne Technik: die Zahnbürste hat eine App, Alexa hört beim Duschen zu, QR-Codes ersetzen Speisekarten, die Pizza wird von der Drohne geliefert, es läuft Werbung für Psychotherapie mit Chatbots, der Nahost Konflikt wird auf Twitter diskutiert, meta-referenziell nihilistische Memes zum Klimawandel kompensieren die Zukunftsangst und Sex mit VR-Brille ist jetzt keine pubertäre sci-fi Fantasie mehr. Viele junge Menschen wenden sich dagegen, sie sind müde und wünschen sich ein technik-entwurzeltes Leben, vor allem in Bezug auf das Smartphone. Was steckt dahinter? Woher kommt dieses Verlangen nach technischer Entwurzelung? Wieso sind wir so ermüdet?
Was hat die Wirtschaft damit zu tun?
England, 18. Jahrhundert: Die industrielle Revolution rollt durch Europa – ihre Geburtsstunde markiert eine Wende, eine gesellschaftliche Wende hin zur Beschleunigung, vor allem in den Bereichen Technik, Wissenschaft und Industrie. Ein bis heute fortlaufender Gesellschaftswandel entsteht, hin zu Effizienz und Produktivität, weg mit der Langsamkeit. Etwas hat sich über die letzten Jahrzehnte in unsere DNA eingeflochten – man findet ihn nicht nur in Algorithmen, wirtschaftlichen Prozessen und Maschinen, sondern auch in unseren postmodernen Köpfen: der Effizienzgedanke. Er regiert die Wirtschaft um uns, eine Wirtschaft, in der wir wohl oder übel existieren müssen, um zu überleben. (Sei effizient, sei produktiv, dann wird schon alles!)
Die Wirtschaft wächst sogar weiter, in den digitalen Raum, und bildet eine neue Form: die attention economy. Es ist nicht mehr das Land, das kolonialisiert wird, um Großindustrien zu bewirtschaften, sondern die Zeit der Konsument*innen, die Aufmerksamkeit schenken. Und wem widmen wir unsere Aufmerksamkeit im 21. Jahrhundert? Richtig, dem Internet. Das Resultat: Effizienz und Aufmerksamkeit sind die Metawährung der Moderne. Was passiert damit? Was macht das mit uns?
Digitale Strukturen im Alltag
Dass Technologie unseren Alltag in jedem erdenklichen Aspekt beeinflusst, ist nichts Neues – wie die Welt aufgebaut ist und wie wir mit ihr interagieren, passiert früher oder später über technische Wege, hin zum digitalen Raum: Hier leben wir uns kulturell aus, hören Musik, schauen Filme, lesen Texte, wir toben uns sozial aus, schreiben Nachrichten, teilen Bilder, liken Bilder, haben parasoziale Beziehungen, wir arbeiten, kaufen, informieren, organisieren uns, suchen nach Entertainment. Dieses Verhalten passiert aber innerhalb eines Systems, das den Effizienzgedanken repräsentiert und Aufmerksamkeit als eine Währung sieht, und das macht etwas mit uns.
Wie sehen wir uns?
Ein großer Einfluss sind hier soziale Medien: Plattformen, die uns, in ihrem Kern, von uns selbst loslösen, aber gleichzeitig ein performatives Ich erwarten. Junge Menschen im Internet leben nicht nur ihr Leben, sie machen eine Bestandsaufnahme davon, sie sind Zuschauer und Performer. Sie schweben über sich und schauen sich selbst dabei zu, wie sie Erfahrungen für die rückläufige Betrachtung dieser Erfahrung machen. Das äußert sich besonders in Trends wie Do it for the plot, eine Art Lebenseinstellung, die das Leben als Storyline ausrichtet: Man tut Dinge für den Plot der eigenen Lebensgeschichte, nicht für die Erfahrung selbst.
Wie sehen wir andere?
Die tagtägliche soziale Auseinandersetzung mit anderen Menschen scheint immer unwichtiger: Wieso sollte ich mich anziehen und rausgehen, um einzukaufen, wenn ich alles auch einfach liefern lassen kann? Wieso sollte ich rausgehen, mich mit der reizüberflutenden Außenwelt auseinandersetzen, wenn ich auch einfach im Bett bleiben kann? Wieso soll ich meine Freundin anrufen, wenn ich ihr auch einfach ein Reel über ihr Sternzeichen schicken kann, das ihr auf einer Metaebene vermittelt, dass ich sie auf einer tiefen emotionalen Ebene verstehe?
Die Auseinandersetzung mit digitalen Räumen und Personen ist angenehmer, weil sie geradlinig ist, sie ist unkompliziert, bequem und effizient. In der realen Welt ist nichts eindimensional oder algorithmisch vorhersehbar – wir sehen Mimik und Gestik in Echtzeit, wir spüren einen vibe, wir sind körperlich anwesend, wir müssen unsere Sinne benutzen – das lässt die haptische Welt bei einer Gegenüberstellung mit der digitalen, reizüberflutend und kompliziert wirken.
Bei der Auseinandersetzung mit digitalen Räumen und Personen kreuzt sich beides, Bequemlichkeit und Effizienz, nur der Unterschied ist, dass der Effizienzgedanke sozial ineffiziente Methoden und Ansichten fördert: Wir entfremden uns tendenziell in der Realität. Die Idee, dass technologische Revolutionen wertvolle menschliche Verbindungen fördern, ist eine Fantasie. Sie fördern lediglich eine verformte Idee von Nähe, eine, die erheblich von Bequemlichkeit und Selbstdarstellung geprägt ist.
Stimulierter Körper, hungrige Seele
Wir verstehen, dass die Art und Weise wie wir uns, unsere Umwelt und Mitmenschen sehen, durch die Filter des Kapitalismus verzerrt wird. Deswegen kaufen sich immer mehr junge Menschen Klapphandys, oder Schallplatten im Laden. Sie geben ihre vollen Kodak Filme im Fotolabor ab, oder schlendern lieber über einen Flohmarkt als durch ein Einkaufszentrum. Sie wollen der cottagecore Ästhetik gerecht werden, oder wollen in einem Van leben. Keiner dieser Prozesse oder Erlebnisse ist bequem oder effizient. Sie priorisieren einen langsamen Prozess, der zu einem erfüllenden Ergebnis führt. Wir verstehen, dass langfristige Glückseligkeit nicht im Tweet oder Serienmarathon steckt, sondern im Buch und im Spaziergang.
Der Anti-Tech Trend ist kein extremistisches Luddismus-Getue, das die gesamte technologische Entwicklung der Menschheit niederstürzen will, es ist vielmehr ein Aufschrei nach mehr Menschlichkeit, es ist ein Verlangen nach echter Lebenserfahrung, nach dreidimensionalen Gefühlen.
Titelbild: (c) Roma Kaiuk/unsplash.com