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Christlicher Fundamentalismus: Aussteigen und Gott schlafen legen

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Fundamentalistischen, radikalen Ausprägungen des Katholizismus fehlt oft die Sichtbarkeit. Wer über den Islam spricht, hat meist fertige Bilder im Kopf: Kopftuch, Burka, Koranschule. Denkt man einen Schritt weiter und fügt das Wort „radikal“ hinzu, bleibt für viele wahrscheinlich nur ein Begriff: Terror. Doch für Radikalisierung innerhalb christlicher Strömungen gibt es wenige vorgefertigte Denkschablonen. Zwei ehemals strenggläubige Frauen erzählen ihre Geschichte.

Zwei junge Mädchen stehen vor einer Abtreibungsklinik und möchten Frauen daran hindern, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Sie sind Teenager und streng religiös. Ein paar Meter weiter versammeln sich linke Gegendemonstrant*innen. Jemand ruft den Mädchen und der kirchlichen Gruppe, mit der sie angereist sind, zu: „Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben.“ Die Mädchen sind erschüttert, verletzt, vor den Kopf gestoßen. Die Pro-Choice-Aktivist*innen seien von Satan beeinflusst, anders können sie sich deren Verhalten nicht erklären. Heute sympathisieren die beiden Mädchen eher mit den Demonstrierenden als mit der kirchlichen Gemeinschaft, der sie angehört haben. Sie sind Mitte zwanzig und studieren. Religiös sind sie nicht mehr. Ich treffe die beiden in einem Park zu einem Gespräch. Mir sitzen zwei selbstbewusste und offenherzige Frauen gegenüber, sie rauchen, sind tätowiert und lachen viel. Es ist schwer vorstellbar, dass die beiden bis vor einigen Jahren nach strengen religiösen Dogmen gelebt haben. Das erleben sie oft, erzählt Marie*. Die wenigsten Menschen, mit denen sie heute zu tun habe, könnten nachvollziehen, was sie erlebt hat.

Nach der Scheidung sucht Maries Mutter in der Religion eine Stütze. Schon als Kind fährt Marie mit ihr quer durch Europa, von Wallfahrtsort zu Wallfahrtsort. Dort bürgt sie schon als 5-Jährige dafür, jeden Tag bis ans Ende ihres Lebens den Rosenkranz zu beten. Die gleichaltrige Isabella* ist damals schon eng mit Marie befreundet, sie begleitet Mutter und Tochter auf vielen Reisen. Ständig unterwegs sein und viele verschiedene Orte kennenlernen – daran erinnern sich beide gerne. Von einer durchschnittlichen Kindheit aber kann nicht die Rede sein. Jeder Tag könnte der letzte sein, schließlich lebt die Familie in ständiger Erwartung des Jüngsten Gerichts. „Ich dachte als Kind nicht, dass ich älter werde als 12, weil ich dachte, dass bis dahin die Apokalypse kommt“, erzählt Marie. Als Teenager träumt sie dann von einer Untergrundhochzeit während des Jüngsten Gerichts.


Jüngstes Gericht

Das Jüngste Gericht ist die, unter anderem in der Offenbarung des Johannes beschriebene, Vorstellung eines göttlichen Gerichts vor der Apokalypse. Die tausendjährige Herrschaft des Messias endet mit der Zweiten Wiederkunft (Second Coming) und dem endgültigen Sieg gegen Satan. Danach folgt das ewige Paradies auf Erden, das eng mit Unsterblichkeitsvorstellungen verknüpft ist. Die genauen Vorstellungen und Mythen zur Apokalypse und zur Zweiten Wiederkehr variieren auch innerhalb der christlichen Konfessionen stark. Das Jüngste Gericht, das so oder so ähnlich auch in den anderen abrahamitischen Weltreligionen vorkommt, wurde bereits unzählige Male vorausgesagt. Auch für 2021 wurde es bereits prophezeit.


Irgendwann schließen sie sich einem privaten katholischen Verein** an. Die Mädchen entwickeln einen Glauben, den sie heute selbst als erzkonservativ und stark bibeltreu bezeichnen. Auf „moderne“ Christ*innen, die ihre Dogmen lockerer auslegen, schauen sie herab. Vor allem Isabella erlernt ihren Glauben Schritt für Schritt. Als Kind konnte sie nicht mehr als ein Vater Unser, Marie bringt ihr dann den Rosenkranz bei. Die starke Nähe zu ihrer Mutter verfestigt Maries Glauben, sie beginnt sie beschützen zu wollen, sie in Diskussionen mit den älteren, weniger gläubigen Geschwistern zu unterstützen. „Ich war ihr Partner“, sagt sie heute.

Wenn Gott einen Sinn verleiht

Der Glaube an einen Gott gibt ihr in einer Zeit Halt und Stabilität, in der vieles nicht einfach ist. Marie kämpft als Jugendliche mit Depressionen und Essstörungen. Gott aber ist immer da, so empfindet sie es damals. Marie und Isabella verbringen einen großen Teil der Zeit mit Erwachsenen. Von Gleichaltrigen werden sie schnell abgelehnt und verspottet: „Wenn du denkst, dass die Welt untergehen wird, jeden Sonntag in die Kirche gehst und jeden Tag betest, bist du nicht the cool kid in school.“ Heute lacht Marie darüber. Doch gerade diese Ablehnung, durch die sie sich an den Rand gedrängt gefühlt hat, radikalisiert sie damals in ihrer Religiosität. Es ist ähnlich wie die Situation mit den linken Demonstrant*innen vor der Abtreibungsklinik. Marie beschreibt die Opferrolle als für das Christentum ganz zentral. Wie Menschen ihnen in solchen Situationen begegnet sind, stand oft im Gegensatz zur christlichen Einstellung, Martyrium schweigend zu erleiden und die andere Backe hinzuhalten. So fühlten sie sich automatisch erhabener, weil sie das „Verlorensein“ der anderen verstanden und es nicht „nötig hatten, zu schreien und gemein zu werden“.

Die Mädchen gehen gemeinsam mit anderen Jugendlichen aus der Gemeinschaft auch auf Mission. Auf der Straße oder am Abend in Clubs sprechen sie junge Menschen an, laden sie zu Gebetskreisen ein und versuchen, andere gezielt von ihrem Glauben zu überzeugen. Heute bezeichnen Marie und Isabella das als koloniales Denken, mit dem sie wenig anfangen können. Man denke, dass man als Christ ein prinzipiell guter Mensch sei und alle anderen schlecht oder Barbaren wären, die Sex haben und Drogen nehmen. „In der Religion glaubst du immer: Alle anderen haben es noch nicht verstanden, sind immer auf der Suche und eigentlich grundtraurige Menschen. Denn wie kannst du glücklich sein ohne Gott? Dabei geht es mir in den letzten Jahren so viel besser, seit ich umgezogen bin und einfach mein Leben lebe“, erzählt Isabella. Die so denkenden Christ*innen würden damit den klassischen white saviour complex verkörpern.


white saviour complex

Der Begriff white saviour complex bezieht sich in erster Linie auf weiße Menschen, die im Globalen Süden freiwillige Arbeit verrichten, dabei aber einer kolonialen Logik folgen und sich selbst als Held*innen inszenieren. Auch christliche Missionen, die nicht-westlichen Ländern die scheinbar „richtige“ Religion und Zivilisation bringen wollen, fallen unter diesen Begriff.


Die vielen Regeln haben die beiden vor einer potenziell gefährlichen Welt außerhalb geschützt. Dafür sind sie auch dankbar. Trotzdem fühlten sie sich nahezu immer im Defizit. Schuldgefühle und schlechtes Gewissen bestimmen ihren Alltag, teilweise bis heute. Der Anspruch an Perfektion vermittelte ihnen das Gefühl, nie genug zu sein. Während Männer vor allem stark und kriegerisch sein müssen, hat eine Frau vor allem schön zu sein. Diese Schönheit, so werde es einem beigebracht, entstehe aus dem Einklang mit dem Göttlichen. „Heute denke ich mir: Maybe I don’t wanna be beautiful“, sagt Marie, lacht laut und fügt hinzu: „Als könne man Akne wegbeten.“

In erster Linie Jungfrau

Neben Schönheit sei aber Jungfräulichkeit das höchste Gut gewesen. Der YouTube-Kanal der Gemeinschaft zeigt das recht deutlich: In sehr vielen Vorträgen und Predigten geht es vor allem um Sex. Während in dem einen Video erklärt wird, wie man als Ehepaar guten Sex hat, wird im nächsten der Pornografie und der Selbstbefriedigung der Kampf angesagt. Verhütet werden darf nur mit der Temperaturmethode, wenn Gott ein Kind für dich vorgesehen hat, darfst du dich diesem Wunsch nicht entziehen. Jegliche Abweichungen von der heterosexuellen Norm werden totgeschwiegen, als würden sie nicht existieren. Wer schwul oder lesbisch ist, ist von einem Homosexualitätsdämon besessen, den man austreiben kann, ist man in der Gemeinschaft überzeugt.

Es ist eine Welt der Idealvorstellungen, der Reduktion, auf das was man glauben will. Die Realität bleibt dabei außen vor. Als die beiden dann jeweils doch vorehelichen Sex haben, bricht gewissermaßen ihre Welt zusammen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt kein Recht mehr habe, zu glauben“, sagt Marie. Von einem Extrem rutscht sie dann schnell ins nächste und hat Sex mit vielen Männern, weil sie nie wirklich gelernt habe, was es bedeutet, eine gesunde Beziehung zu seiner Sexualität zu haben. Auch Isabella hat irgendwann Sex mit ihrem Freund. Sie beichtet es, erzählt aber sonst lange niemandem davon. Immer wieder soll sie für Einsicht beten, doch die kommt nicht. Sie kann nicht bereuen, weil sie festgestellt hat: Das fühlt sich gut an.

Auf Reisen keine Kirchen finden

Bei Marie beginnt die Entfernung vom Glauben und der Religion eigentlich, als sie nach der Matura auf Reisen geht. Zu Beginn sucht sie sich noch Kirchen in den Ländern, durch die sie reist, nach und nach wird sie nachlässig, hat keine Lust mehr und vergisst darauf. Es ist ein schrittweiser Prozess. „Ich dachte lange, dass ich noch glaube. Dann habe ich überrascht irgendwann einfach festgestellt: Nein, da ist nichts mehr. Ich bin Atheistin oder zumindest Agnostikerin“, erinnert sie sich. Doch der Ausstieg fällt ihr damals nicht leicht. Auch wenn sie weiß, dass sie keine Angst haben muss, verstoßen zu werden, hat Marie lange mit der tiefen Enttäuschung ihrer Mutter zu kämpfen. Bis heute ist der Kontakt von Konflikt geprägt, weil ihre Mutter nicht akzeptieren könne, dass Marie heute ein eigener Mensch mit eigenen Ansichten sei.

Kalter Entzug von Gott

Es ist die Zeit, in der junge Menschen allgemein gezwungen sind, sich mit sich selbst, der Welt und ihrem Platz darin ernsthaft auseinanderzusetzen. Doch während es bei vielen Jugendlichen vor allem darum geht, von zu Hause auszuziehen, eine Ausbildung oder Arbeit zu finden und neue Freundschaften zu schließen, stehen Marie und Isabella vor einer noch viel größeren Herausforderung. Jeder einzelne Wert, jedes Erklärungsmuster und ihre gesamte Weltsicht, existieren plötzlich nicht mehr in jener Form, die sie kannten. Diese Phase hätte sich angefühlt wie ein Entzug, erzählt Marie. Sie musste sich von allem distanzieren, woran sie bisher geglaubt hatte. Für Isabella öffnen sich durch ihr Anthropologie-Studium erstmals neue Sichtweisen: Sie lernt andere Wertsysteme kennen, das relativiert ihren christlichen Glauben. Heute sind beide Frauen dafür dankbar, weil sie nachvollziehen können, warum Menschen sich radikalisieren, warum Ansichten immer extremer werden und warum Glaube für manche Menschen so zentral ist, dass er alles überschattet: „Wir haben etwas erlebt, was viele nicht kennen oder nachvollziehen können. Wir haben eine komplett andere Welt kennengelernt, eine Parallelgesellschaft, die viele nicht einmal wirklich wahrnehmen. Das bereichert den Horizont“, ist Marie überzeugt.

Gott schlafen legen

Isabella und Marie erzählen seit fast zwei Stunden ihre Geschichte. Als ich frage, ob sie aus der Kirche ausgetreten sind, schweigen sie plötzlich. Isabella lächelt schüchtern. „Ja“, gibt sie dann zu, „seit etwa einem Monat.“ Sie hat es Marie noch nicht erzählt. Monatelang sei der Antrag auf ihrem Laptop offen gewesen, jetzt konnte sie sich dazu durchringen. Ihre Freundin schreit auf und scherzt: „You will burn in hell, witch!“ Dann stimmt Marie ihr zu: Die Kirche als Institution wolle sie nicht länger unterstützen.

Für beide war der Glaube sehr real, heute ist ihr Leben ein anderes. Die Werte, die sie als junge Mädchen dazu gebracht haben, gegen Abtreibungen zu demonstrieren, sind anderen, progressiveren Ansichten gewichen. Sie lassen sich nichts mehr vorpredigen, sondern bilden sich ihre eigene Meinung. Die radikale Überzeugung haben sie nicht von einem auf den anderen Tag abgelegt, sondern schrittweise verlernen müssen. Trotzdem leugnen sie ihre Vergangenheit heute nicht, denn sie ist ein wichtiger Teil dessen, was sie heute ausmacht. Isabella erzählt: „Gott war da. Ich habe das gespürt. Er hat in meinem Leben gewirkt. Ich hab‘ diesen Gott jetzt schlafen gelegt. Es ist mein Gott, den ich geschaffen habe und jetzt schlafen gelegt oder eben getötet habe.“


*Name von der Redaktion geändert.
** Name der Gemeinschaft ist der Redaktion bekannt. Um die Identität der Frauen zu schützen, wird auch der Verein hier nicht genannt.

(c) Titelbild: Pedro Dias/unsplash.com

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