Dr. med. Thomas Kahlen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland und hat mir im Skype-Interview seine Eindrücke der Corona-Situation im Zusammenhang seelischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen beschrieben. Außerdem unterhalten wir uns über die Schwierigkeiten von Tele-Medizin und reflektieren, was für Auswirkungen übermäßiges Engagement von Eltern und Gesundheitspersonal haben kann.
Kommen durch die Corona-Krise mehr Kinder und Jugendliche zu Ihnen?
Das kann ich derzeit noch nicht sagen. Nach dem 11. September war es auch so, dass Kinder und Jugendliche erst mit einer großen zeitlichen Verzögerung Hilfe wegen Ängsten und Depressionen beanspruchten. Ein ähnliches Szenario wäre auch mit der Corona-Situation denkbar.
Wie bewerten Sie den Einfluss der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche, die schon vorher mit seelischen Problemen zu kämpfen hatten?
Man muss jetzt natürlich sagen, dass die Corona-Situation an den Kernbedürfnissen aller Menschen rüttelt und damit zu einer generellen Labilität beigetragen hat. Die Irritation und Beeinträchtigung der Bedürfnisse nach Sicherheit, sozialen Beziehungen und Autonomie führen zu einem Unbehagen, das psychische Vorerkrankungen zusätzlich triggern kann. Die Kinder denken sich „Ich bin ja gar nicht mehr sicher. Die Experten, die Statistiker, die Pädagogen, die zeigen mir irgend etwas, aber dieses Coronavirus kann ich nicht sehen.“
Wie vermittelt man die derzeitige Corona-Situation Kindern und Jugendlichen richtig?
Es geht darum zu akzeptieren, dass das einzig Sichere die Unsicherheit ist.
Keine Angst zu haben ist kein Ausdruck von Mut, mutig ist es, durch seine eigenen Ängste durchzugehen. Es geht hierbei natürlich auch um philosophische und tief existentielle Fragen. Ich verwende bei Kindern und Jugendlichen oft das Beispiel mit der Eisschicht. Es gibt da also eine schneebedeckte Eisschicht, auf der wir laufen. Wir fühlen uns relativ sicher, obwohl wir nicht wissen, wie dick sie ist und wie tief der darunterliegende Abgrund ist. Die Corona-Situation ist wie ein Windhauch, der über die Eisfläche fegt und uns vor Augen führt, dass der nächste Schritt gefährlich sein könnte. Mit dieser Beschreibung will ich vermitteln, dass Sicherheit ohnehin keine Selbstverständlichkeit ist.
Wie gehen Sie mit Risikopatienten um, die suizidal gefährdet sind?
Letztendlich mache ich das, was ich immer versuche – offen darüber reden und versuchen, ihn oder sie zu verstehen. Risikopatienten durchleben eine Sinnkrise. Ich versuche zu erklären, dass es am Ende immer um das Leben geht, besonders dann, wenn der Tod an die Tür klopft. Das Corona-Virus rückt Themen, die den Tod oder das Sterben zum Inhalt haben, näher an uns heran. Mir hilft da selbst eine gewisse Spiritualität. Ich bin kein Missionar oder Priester, aber ein gewisser Grundglaube, dass alles besser wird, hilft in solchen Momenten.
2018 wurde das Fernbehandlungsverbot vom Deutschen Ärztetag gelockert. Ab diesem Zeitpunkt konnten Ärzte Patienten auch ohne persönlichen Erstkontakt via Telefon oder Video-Unterhaltung beraten. Was ist Ihre Meinung dazu?
Zunächst war ich sehr skeptisch was Tele-Medizin angeht. Durch die veränderte Situation musste ich mich dem dann stellen. Die Behandlung meiner Patienten via Videokonferenz kann ich mir allerdings nur in kleinen Gruppen vorstellen. Bei Kleinkindern ist das dann etwas problematischer, weil ich über Spiele mit ihnen kommuniziere. Bei der persönlichen Begegnung bekomme ich oft Dinge mit, die über Videokonferenzen nicht möglich wären, wie zum Beispiel den Angstschweiß der Patienten. Man sagt ja auch, den Menschen kann ich gut riechen oder der stinkt mir [lacht]. Für die Online-Therapiestunden sind außerdem nur wenige zertifizierte Programme zugelassen. Ich bin erstaunt, wie gut das Gespräch hier über Skype funktioniert, bei den Programmen, die wir nutzen, kommen häufig Verzerrungen und leichte Zeitverzögerungen vor. Das irritiert und verunsichert mich.
Gibt es auch positive Auswirkungen der Gesundheitskrise?
Ja, die gibt es. Kinder, die beispielsweise Schwierigkeiten mit Mobbing haben und in der Schule leiden, sind froh zuhause bleiben zu dürfen. Was aber passiert, wenn die Schulen wieder öffnen, weiß ich nicht. Ich befürchte, dass die meisten Menschen denken, dass es so weiter geht wie bisher. Wir müssen einfach lernen, auch mit diesen Unsicherheiten weiter zu leben. Ich zitiere Martin Luther: „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, dann würde ich noch ein Apfelbäumchen pflanzen.” Ich hoffe, dass sich im Bewusstsein der Menschen etwas verändert.
Welche drei Tipps können Sie Eltern geben, die aufgrund der Corona-Maßnahmen mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen vor besondere Herausforderungen gestellt sind?
Eltern sollen sich bemühen, die Kernbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu erfüllen. Gegebenenfalls kann man seine eigene Rolle als Mutter bzw. Vater überdenken und sich auf anderer Ebene dem Kind nähern. Vielleicht kann das etwa eine Spielbeziehung sein. Außerdem ist jetzt eine klare Tagesstruktur wichtig, in der auch das Kind selbstbestimmt entscheiden kann, wie diese auszusehen hat. Setzen Sie kleine Highlights im Alltag, denken Sie zurück an Ihre Kindheit und was Sie da gerne gemacht hatten. Ich hoffe auf die Kreativität und die Ressourcen jedes Einzelnen.
Mit welchen Worten würden Sie das Interview gerne abschließen?
Ich würde gerne an das Gesundheitspersonal und die Eltern appellieren, die in dieser Situation besonders engagiert sind. Es ist gut, wenn sie sich verantwortlich fühlen und versuchen, mit aller Kraft den Laden am Laufen zu halten. Aber ich möchte in Erinnerung rufen, dass es auch hier Grenzen gibt. Es ist wichtig, diese Grenzen zu akzeptieren und Hilfe zu fordern. Andernfalls kann der Dauerstress auch körperliche Auswirkungen haben, das Immunsystem schwächen, wodurch das Infektionsrisiko wieder erhöht wäre, oder letztendlich sogar zum Burnout führen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Super Interview!
Es ist interessant zu lesen, wie andere, denen es teilweise schlechter geht, mit der aktuellen Krise umgehen.