Seit Beginn der Pandemie betonen Expert*innen die negativen Folgen sozialer Isolation. Einsamkeit, Unsicherheit und Angst wirken sich stark auf den Missbrauch legaler und illegaler Suchtmittel aus. In der allgemeinen Krisensituation stellt Alkohol- und Drogenkonsum für einige Menschen einen Mechanismus dar, diese schwierige Zeit durchzustehen und negative Gefühle zu betäuben. Wir haben Betroffene und Menschen verschiedener Einrichtungen zur Suchtprävention und Substitutionstherapie während der Corona-Pandemie befragt.
„Es ist beinahe eine Erleichterung“, beschreibt Kilian H.* seine momentane Gefühlslage in Sicht auf den nun dritten bevorstehenden Lockdown. Als Wirt eines kleinen Lokals in einem Wiener Außenbezirk ist er es gewohnt, mit seinen Gästen regelmäßig einen zu heben – dabei bleibt es selten nur bei einem Glas. In den Zeiten, in denen sein Lokal geschlossen blieb, zeigte sich sein Alkoholkonsum stabil: „Die Versuchung ist einfach nicht so da.“
Auch für eine andere junge Patientin in Suchttherapie erweist sich Corona als Schutzmechanismus. Vor der Pandemie lag der Lebensmittelpunkt von Eva L.* auf den Tanzflächen der Wiener Nachtclubs. Durchzechte Nächte verdankte sie auch einem sehr wilden Drogenkonsum. Nun verbringt sie die meisten Wochenenden zuhause, wo sie mit ihren Eltern lebt. Momentan ist sie clean, nur abends raucht sie heimlich einen Joint, um besser einschlafen zu können. „Vor dem Ende des Lockdowns habe ich etwas Angst“, erzählt sie.
Stadt-Land-Gefälle?
„Wir haben als Suchthilfeeinrichtung schon bemerkt, dass viele Personen, mit denen wir in Kontakt stehen, rückfällig geworden sind, mehr konsumiert haben und regelmäßiger konsumiert haben“, erzählt uns Ursula Zeisel vom Verein Dialog in Wien.
Während des Lockdowns wurden die Beratungs- und Betreuungsstrukturen der Suchthilfeeinrichtungen in Wien größtenteils aufrechterhalten. Wo möglich, wurde das Angebot auf telefonischen Kontakt umgestellt, die ambulanten Einrichtungen waren unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen für besonders dringende Ansuchen aber zu jedem Zeitpunkt für die Patient*innen geöffnet. Dies war auch notwendig – allgemein hat die Zahl der Personen, die bei Suchthilfeeinrichtungen um Hilfe ansuchen, nämlich deutlich zugenommen.
In Schärding/Oberösterreich behandelt Dr. Dieter Wagenbichler unter anderem Sekundärprobleme, die durch intravenösen Drogenkonsum auftreten. Zu ihm kommen vor allem Patient*innen, die aus gegebenem Anlass eine Therapie einer Freiheitsstrafe vorziehen, oder weil der finanzielle Druck bei der Anschaffung von Opiaten schlichtweg zu hoch ist und sie sich deshalb zu einem Substitutionsprogramm entschließen. „Primär haben Betroffene Straßenheroin oder weitergegebene Substanzen konsumiert“, erzählt Dr. Wagenbichler. Diese Substitutionspräparate müssen vor der Apotheke eingenommen und die Ausgabe genau aufgezeichnet werden. Hierbei sei kein signifikanter Anstieg von Opiat,- oder Substitutionskonsum verzeichnet worden. Manchen gelingt es, sich von ihrer Suchterkrankung zu lösen, oder sich langfristig davon zu entfernen. Taucht in dieser Zeit eine Krise auf, wird der Rehabilitationsprozess erschwert.
Pandemie und Lockdown sind eine Krisensituation. „Genauso wie andere Personen Krisensituationen erleben, nach einem Beziehungsende oder wenn sie ihren Job verlieren und sich dann aber wieder erholen“, so Expertin Ursula Zeisel. Besonders Menschen, die vor der Pandemie schon psychisch und/oder chronisch erkrankt sind, erleben oft einen sehr hohen Leidensdruck.
Raoul S.* leidet an Depressionen und Angststörungen. Seit dem ersten Lockdown im März hat sich sein Medikamentenmissbrauch wieder verschlimmert. Die Isolation und der eingeschränkte Kontakt zu Familie und Freund*innen bedeuten für ihn den Wegfall eines sozialen Sicherheitsnetzes, die allgemeine Unsicherheit und Bedrohung durch die Pandemie wirken bedrückend auf seinen psychischen Zustand. Einsamkeit hat sehr viele Erscheinungsbilder und ist gerade jetzt eine weit verbreitete Entwicklung, die sich quer durch alle Schichten, Ländergrenzen und jedes Alter zieht.
Weniger illegale aber mehr legale Substanzen
Auffallend zeigt sich seit Beginn der Corona-Pandemie auch eine Verschiebung des Konsums von illegalen zu legalen Suchtmitteln. Durch die internationalen Lockdowns und die massiven Beschränkungen der Reisetätigkeit, fanden weniger illegale Substanzen ihren Weg auf den Schwarzmarkt, viele Betroffene mussten daher ihr Konsumverhalten umstellen.
Der Dachverband der Sozialversicherungsträger (SV) verzeichnete zu Beginn des ersten Lockdowns im März einen Anstieg der Nachfrage von verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmittel um 18 Prozent. Inwieweit Psychopharmaka während der Corona-Pandemie als Substitutionsmittel genutzt werden, lässt sich nicht beurteilen, dennoch sorgte die Krisensituation für eine Vervielfachung depressiver Symptome und Angststörungen in der Bevölkerung.
Keine einheitliche Erfahrung
Die Gespräche mit den Betroffenen zeigen uns, dass die Suchterfahrung im Lockdown keine einheitliche ist. „Warum jemand süchtig wird, hat individuelle Ursachen, und genauso gibt es für jede Person individuelle Motivationen zu trinken oder bestimmte Substanzen zu konsumieren“, so Ursula Zeisel. Suchterkrankungen sind ein breites Feld und betreffen unterschiedliche Menschen, in unterschiedlichen Situationen, mit unterschiedlichen psychischen Problemen. Während Lockdown und soziale Isolation also für einige Betroffene destabilisierend wirken, kann dies für andere Suchterkrankte möglicherweise einen Schutzfaktor darstellen. Kurzzeitig verstärkter Konsum legaler und illegaler Substanzen bedeutet noch lange nicht, dass eine Person in eine Sucht gefallen ist, sondern bestätigt abermals, dass Menschen auf Krisensituationen schlichtweg reagieren.
Noch ist es nicht möglich abzusehen, wie sich die kollektive Krisenerfahrung längerfristig auf unsere Gesellschaft auswirkt und welchen Effekt soziale Isolation und Lockdown auf Suchterkrankungen haben werden. Denn so individuell wie wir als Menschen sind, ist auch unsere Kapazität, der Sucht alleine zu begegnen. Auch eine temporäre Krisensituation kann eine immense psychische Belastung darstellen, und niemand sollte sich schämen müssen, Hilfe zu suchen, die er*sie benötigt.
Anlaufstellen:
Suchthilfe Wien
Sucht und Drogenkoordination Wien
Verein Dialog Wien
Pro Mente Oberösterreich
Pro Mente / Erste Hilfe Für Die Seele / Blog
*Name von der Redaktion geändert
Stv. Chefredaktion / Gesellschaft