Vorstellungen von Männlichkeit gibt es so viele wie Männer selbst. Zwischen der postmodernen Fantasie von der Auflösung der Geschlechtergrenzen und neofaschistischem Hypermännlichkeitskult ist aber viel Platz. Wie findet man sich in diesem Dschungel zurecht? Was denkt Mann darüber? Wir haben mit einigen von ihnen geredet. Darüber was es für sie heißt, ein Mann zu sein.
Den ersten Teil unserer Reihe beginnen wir ganz am Anfang. Muss, wer Mann sein will, schon früh damit anfangen? Wir haben uns an einer Wiener Volksschule umgehört, welche Vorstellungen Jungs von ihrer Geschlechteridentität und ihren Gefühlen haben.
Spricht man über Geschlechterbilder, spricht man über Sozialisation. Über unterschiedliches Spielzeug, die Farbwahl der Kleidung und Vorbilder. Mädchen und Buben bekommen von klein auf unterschiedliche Rollenbilder vermittelt. Die Kindheit kann darüber bestimmen, wer schwach und wer “stark” wird, wer zuhaut und wer “nur” erträgt. Wo und wann entsteht die Gewaltverherrlichung, die dazu führt, dass Männer so viel öfter Gewaltverbrechen begehen und Frauen so viel öfter Opfer solcher werden? Sind solche Rollen in diesem Alter wirklich schon angelegt? Denken Kinder überhaupt in solchen Kategorien? Wir sitzen um acht Uhr in der Früh in einem Sitzkreis in einer Volksschule mit hohem Migrationsanteil in Wien. Wir sprechen mit Drittklässlern über verschiedene Themen: Schule, ihre Wünsche für die Zukunft und eben auch über Männlichkeit.
Wie man nicht in Schubladen denkt
Frech und spitzbübisch sind sie alle, Buben wie Mädchen. Vielleicht haben wir erwartet, die Buben wären lauter, würden die schüchternen und zurückhaltenden Mädchen überrennen. Was für ein Irrtum. Wir stülpen den Kindern unsere erwachsenen Vorurteile über und müssen uns mehr als einmal eingestehen: So läuft das in deren Welt nicht. Nicht so schwarz-weiß, nicht so einfach in Schubladen geordnet, wie wir das vielleicht gerne hätten. Buben spielen mit Mädchen und umgekehrt. Manchmal bleibt man auch unter sich.
Mensch ist Mensch
Die einzige Grenze, die die Kinder hier zwischen männlich und weiblich ziehen, ist eine körperliche. Kichernd beschreibt mir Sara* den Unterschied zwischen Penis und Vagina. Die anderen werden knallrot und ducken sich unter den Tisch, trotzdem stimmen sie alle zu: Ein Mann ist ein Mann, weil er einen Penis hat. Und Körperbehaarung. Das haben sie in ihrem Sexbuch gelesen. Joy* überlegt lange, dann zeigt sie nochmal auf und fügt hinzu: „Eigentlich sind Buben und Mädchen unterschiedlich, weil alle Menschen unterschiedlich sind.” Sie ist es auch, die empört reagiert, als Marco* behauptet, Buben wären zumindest stärker als Mädchen. Dafür bekommt sie große Zustimmung der anderen Mädchen. Nein, Stereotype spielen hier weder für die einen, noch die anderen eine große Rolle.
“Manchmal bin ich so wütend, da muss ich einfach Dinge kaputt schlagen.”
Auch was Affektkontrolle betrifft überraschen uns die Kinder. Sie alle sehen Gewalt als Problem und haben erstaunlich reflektierte Ansichten zum Thema Wut. Sie präsentieren uns eine Bewältigungsstrategie nach der anderen: Sie lenken sich ab, boxen in einen Polster oder die Luft, spritzen sich Wasser ins Gesicht oder suchen das Gespräch mit Freunden. Nach und nach erzählen uns einige Jungs aber auch von Momenten, in denen ihnen all das nicht mehr hilft. „Manchmal bin ich so wütend, da muss ich einfach Dinge kaputt schlagen”, sagt Medin*. István* erzählt: „Einmal war ich in der Vorschule so wütend, dass mich der Lehrer festhalten musste.” Er schämt sich offenbar dafür. Auch die anderen Buben erzählen davon, dass sie manchmal ausrasten, dass sie dann mit niemandem reden wollen, dass man sie in solchen Situationen nicht so schnell wieder beruhigen kann. Gewalt ist also doch eine Realität für die Kinder.
Interessanterweise sind es nur Buben, die sagen, sie hätten ein Problem damit, ihre Gefühle gewaltlos auszudrücken. Ob die Mädchen nur ungern darüber sprechen oder es in dieser Klasse tatsächlich nur Buben betrifft, lässt sich nicht sagen. Gewaltverherrlichung erleben wir hier aber keine. Wenn die Jungs von den eigenen Gewaltausbrüchen erzählen, so bewerten sie diese durchwegs negativ. Sie relativieren und verweisen wiederum auf ihre Methoden, ihre Aggression loszuwerden. Manchen fällt es schwer, ihre Emotionen überhaupt zu zeigen. „Ich weine nur im Kopf”, sagt Hassan* und Timo* erklärt uns: „Das heißt, er zerbricht dann innerlich.”
Faustlos
Nach einem Gespräch mit einer Lehrerin erfahren wir, warum die Schüler so aufgeklärt mit dem Thema umgehen. Die Schule verwendet in ihrem Lehrplan das Konzept Faustlos. Ursprünglich aus den USA, wird es an vielen Bildungsinstitutionen in Deutschland und Österreich verwendet, um Schülern einen gesunden Umgang mit ihrer Aggression zu vermitteln. Dazu werden die drei Kernthemen Empathie, Impulskontrolle und Umgang mit Ärger und Wut spielerisch in den Unterricht implementiert.
Was auffällt ist, dass die Erklärungen der Kinder immer einem bestimmten, offenbar gelernten Muster folgen. „Wenn ich wütend bin, spüle ich mir das Gesicht kühl ab” oder eben „Ich boxe in einen Polster”. Das geht mit dem Grundgedanken des Faustlos Programms einher. Die Methode geht davon aus, dass systematisch gelernte Gedankenschritte eine einfache Konfliktbewältigung bedeuten. Ob nun erlernt oder durch Reflexion erkundet, die Schüler wissen beeindruckend viel über ihr Innenleben. Besonders das Klischee „Buben weinen nicht” scheint die Kinder nicht erreicht zu haben. Jungs wie Mädchen erzählen offen von Traurigkeit, als sei es das Normalste der Welt.
Zu jung für Gewalt?
Wir fragen uns, wie es bei all diesem Wissen über das Problemfeld Aggression und dem unglaublich erwachsenen Zugang zu den eigenen Emotionen sein kann, dass Männer nach wie vor etwa 9 von 10 Verbrechen gegen Leib und Leben begehen. Diese Klasse lässt uns vermuten, dass Gewalt erst später zu einem typisch männlichen Problem wird. Möglicherweise liegt es aber auch an der Faustlos Methode, die die werdenden Männer früh genug zur Auseinandersetzung mit der eigenen Innenwelt gebracht hat.
Vielleicht lassen sich diese Fragen nächste Woche eher beantworten, wenn wir mit einem Kickbox Weltmeister, der junge Geflüchtete coacht, und einem Bodybuilder über Körper und Seele sprechen.
*Namen von der Redaktion geändert
Comitted to the best obtainable version of the truth.