Wer als urbaner, progressiver und moderner Mensch etwas auf sich hält, muss heute sex positive sein, so scheint es. Doch was heißt das überhaupt? In Zeiten völliger Körperkontaktabstinenz begeben wir uns auf Spurensuche nach freier Liebe, Sexpartys und einem Konzept, das das Herz bei momentan gesteigerter Vorfreude auf Sinnlichkeit schon mal höher schlagen lässt. Frei nach dem Motto: „Keep your hands clean and your mind dirty.“
Gehört mittlerweile Sex Positivity zum modernen Lebensgefühl wie abgewetzte Turnschuhe oder eine Selbstfindungsreise nach Thailand? Ist es eine Philosophie, Lifestyle-Choice oder einfach nur ein inhaltsleerer Trend, der aus Berlin zu uns hinüber geschwappt ist? In deutschen Städten kennt man sogenannte sex positive Partys schon länger. Nach dem Motto alle willkommen und alles erlaubt, wird queere und kinky Partykultur kultiviert, Tanzen und Sex gehen dabei ganz selbstverständlich Hand in Hand. Aber in Wien? Ist Wien nicht die Stadt, in der man noch während des ersten Aufrisses des Abends seine Schuldgefühle in weißen Spritzern ertränkt, die Stadt, in der der Katholizismus die Fortgehkultur fast so sehr geprägt hat, wie der ¾ Takt beim holprig getanzten Walzer?
Der konservative Schein trügt. Die Wiener und Wienerinnen zieht es ins Separée. Auch in Österreich werden Tabus und Konventionen abgestreift und ein offener Umgang mit sexuellen Bedürfnissen gesucht. Das Techno-Kollektiv Hausgemacht ist einer der bekanntesten Veranstalter solcher Partys. Wer bei Zusammen.Kommen, so heißt ihre Eventreihe in der Grellen Forelle, hineinmöchte, muss aber zunächst mal beweisen, dass er nicht nur zum Vögeln oder Gaffen herkommt. Über einen Fragebogen kann man sich online um ein Ticket bewerben. Dass hier nicht nur grundsätzliche Verhaltensweisen, sondern auch Meinungen zu feministischen Themen abgefragt werden, bei denen es keine objektiv richtigen oder falschen Antworten geben kann, scheint die wenigsten zu stören. Für das Event am Valentinstag haben sich genug Leute online angemeldet. Wer möchte, kann dann ohnehin noch sein Glück in der Schlange versuchen.
Zieh dich aus, mach dich nackig
Wir mischen uns unter die wartenden Gäste, die sich vom typischen Publikum einer Hipster-Bar oder einem Bobo-Kaffeehaus nicht unterscheiden. Keine notgeilen Sexmonster, sondern ganz normale Leute stehen in der Schlange, nippen an Berliner Luft und plaudern mit uns offen und ungeniert über Sex. Viele sind nicht zum ersten Mal hier, sie wissen, was sie drinnen erwartet. Davor, die Hüllen fallen zu lassen, hat kaum jemand Angst:
„Über Instagram wird ohnehin das ganze Privatleben ausgestellt, indem man sich auszieht, fällt nur eine weitere, letzte Schicht.“
Auf der Website des Veranstalters findet man eine Galerie mit Dresscode-Vorschlägen. Erlaubt ist „alles, was dein sexuelles Wesen unterstreicht und streichelt“, das heißt Dessous, Latex, Kink, Kostüme, Nacktheit, Fetisch usw. … Ein Gast, der mit seiner Freundin da ist, zeigt sich verunsichert:
„Letztendlich werden dann da drinnen wieder nur gängige Vorstellungen von Sexualität und Sexyness abgebildet. Ich wäre lieber in meinen Lieblings-Boxershorts mit Bananen-Printmuster und Superman-Maske gekommen. Stattdessen habe ich mich in die klassische Calvin Klein Unterwäsche gezwängt und mir eine Krawatte gekauft. Wohl fühle ich mich so nicht wirklich.“
Hedonistischer Aktivismus?
Dabei scheint gerade das Aufbrechen diverser Normen ein Anliegen von Hausgemacht zu sein. „In einer Zeit, in der die ÖVP über 40% Zustimmung findet und konservative Ideale ein Revival verzeichnen, wollen wir uns entkleiden, den Hedonismus und die harten Beats leben“, so steht es auf der Website. Als politische Aktion will es dennoch niemand in der Schlange verstehen. Die Leute kommen aus Neugier, aus Lust am Feiern, Lust an der eigenen Lust. In erster Linie scheint es um Respekt und ein wertschätzendes Miteinander zu gehen. Wir kommen ins Gespräch mit Sarah*, die nervös am Rand der Schlange steht und auf ihre Freundinnen wartet. Sie sei noch Jungfrau, erzählt sie uns, und habe kein Interesse daran, im Club mit jemandem Sex zu haben. Sarah kommt hierher, weil sie sich hier vor musternden und abschätzigen Blicken sicherer fühlt. Auf einer sex positive Party gibt es keine Grapscher, hofft sie. Und wenn, dann gibt es ein Awareness Team, das darauf achtet, dass alle unbelästigt und in Ruhe tanzen können.
Konsens, Konsens und nochmal Konsens
Das funktioniert aber nicht immer perfekt. Auf anderen Partys, erzählt man uns, gibt es sehr wohl Probleme mit sexueller Belästigung im Darkroom. Das Betreten eines solchen ist kein Freibrief für unangenehme Aufdringlichkeit. Auch und vor allem nicht auf Partys, die sich einem offenen Umgang mit Sexualität verschrieben haben. Konsensuales Einverständnis ist auch maßgeblich für die Definition von Sex Positivity: Alles, was sexuell zwischen zwei oder mehr Personen passiert, ist in Ordnung, solange es im Konsens stattfindet. Das schließt sexuelle Orientierungen genauso mit ein wie einzelne Praktiken, Fetische oder Fantasien. „Da drinnen sind alle gleich. Alle gehen respektvoll miteinander um. Es ist ein Raum, in dem man Offenheit genießen und seine eigene Sexualität feiern kann. Die Menschen kommen auf einen zu und fragen, ob sie einen berühren oder küssen dürfen“, schwärmt Luisa*, die öfters sex positive Partys besucht und selbst in einer polyamourösen Beziehung lebt.
Schmusen mit Freunden
Mit ihr treffe ich mich ein paar Tage später auf einen Kaffee, bei dem sie mir von selbst organisierten Schmusepartys erzählt. Sex positive Partys in Nachtklubs wie der Grellen Forelle können mit der Menge an Nacktheit vor allem Einsteiger schnell auch überfordern. Auf WG-Partys trifft man sich in gemütlichem Rahmen mit Freunden und hat dort die Möglichkeit intim zu werden. Statt „feiern, Darkroom, weiterfeiern“ lässt man sich dort eine Badewanne ein, hört keinen harten Techno, kommt nicht in expliziter Kleidung und kann sich zwischendurch auch mal die Zähne putzen.
Die Freiheit ehrlich zu sein
Doch worum geht es dabei eigentlich wirklich? Luisa* erklärt es so:
„Es gibt Kontrolle über den eigenen Körper, verbunden mit einem Freiheitsgefühl: Du darfst du selbst sein. So wird man auch ehrlicher, führt ehrlichere Gespräche, ist ehrlicher zu sich selbst und zu anderen.“
Wir sollten wahrnehmen und akzeptieren, dass Menschen sexuelle Wesen sind. Sex Positivity bedeutet im Grunde nicht mehr und nicht weniger, als Sexualität zu enttabuisieren und einen offenen Umgang mit allen ihren Facetten zu finden. Das bedeutet auch, dass man sich mit den eigenen Bedürfnissen, Gefühlen, seiner Verletzlichkeit und seinem Körper auseinandersetzen muss. Das kann anstrengend und manchmal unangenehm sein, gibt sie zu. Gerade in polygamen oder polyamourösen Beziehungen sind Selbstreflexion, Ehrlichkeit und offene Gespräche wesentlich.
Die Sache mit der Monogamie
Wer sich selbst als sex positive empfindet, muss aber nicht automatisch der Monogamie den Kampf ansagen. Trotzdem ist das grundsätzliche Infragestellen gewisser Normen ein wesentlicher Teil des Konzepts. Luisa* trifft getrennt von ihrem Partner, aber auch mit ihm gemeinsam, andere Leute. In einer monogamen Beziehung fühle sie sich sofort eingesperrt: „Man kann nicht verlangen, dass eine Person alle Bedürfnisse befriedigt. Wenn mir verboten wird, auch nach rechts und links zu schauen, kann ich damit nicht gut umgehen.“ Man müsse überdenken, was Liebe und Zuneigung überhaupt bedeuten. Luisa* meint, dass Anziehung, wird sie auf mehrere Menschen verteilt, nicht halbiert wird, sondern sich einfach vermehrt.
Wer gehört hier wem?
Das heißt nicht, dass Eifersucht nur in monogamen Lebenskonzepten eine Rolle spielt. Stolz, Selbstzweifel und ein verletztes Ego führen dazu, dass man versucht Bestätigung zu finden, indem man sein „Anrecht“ auf einen Menschen deklariert, das Öffnen einer Beziehung kann schnell auch als Kontrollverlust empfunden werden, glaubt Luisa*. Wichtig sei immer, die eigene Verletzlichkeit zuzulassen, zu reflektieren und zu kommunizieren. In den meisten Fällen kippen die Gefühle aber ins positive Gegenteil. Die Poly-Szene hat dafür einen eigenen Begriff: compersion, der sich als Mitfreude übersetzen lässt. Statt eifersüchtiger Gefühle empfindet man große Freude, wenn der Partner mit jemand anderem Sex hat oder eine glückliche Beziehung führt.
Zuerst Schmuddelkeller, dann Szeneklub
Während früher vor allem Swingerclubs ähnliche Sehnsüchte erfüllten, steigen die sex positive Partys von heute zu marketingtechnischen Erfolgskonzepten auf. Statt mit schmuddeligem Keller und verruchtem Image werden die Partys heute über Stil, Techno, Glitzer und Jugend verkauft. Dort trifft die Neo-Hippie-Szene, die freie Liebe im Stil der 1970er Jahre feiern und ausleben möchte, auf neugierige und gelangweilte Millenials, die ihre Fortgeh- und Rauscherfahrungen auf ein neues Level heben wollen. Man macht damit Sex nicht zwingend zum Politikum, sondern schreibt einen Trend der Individualisierung und Offenheit einfach fort. Das Herauslösen von Swingerpartys aus dem Graubereich des Tabus ist nur der nächste logische Schritt.
Viel mehr als nur Party
Statt eigentlich monogame Beziehungen in kontrolliertem Rahmen temporär zu öffnen, gehen die meisten heute ohnehin weniger feste Bindungen ein, können sich freier ausprobieren und mit Sexualität experimentieren. Partnertausch, Fremdgehen, Gruppensex – nichts davon ist noch wirklich verrucht oder verboten. Veranstalter wie Hausgemacht nutzen solche gesellschaftlichen Entwicklungen ökonomisch. Wer dem Zeitgeist entsprechen will, lässt sich auf darauf ein, sexuellen Hedonismus zu zelebrieren. Partys sind dabei nur ein kleiner Teil eines Trends, der versucht, eine positive und bejahende Auseinandersetzung mit Sexualität in unseren Alltag zu holen. So ist Sex Positivity alles auf einmal: Trend, Lebenskonzept und politische Einstellungssache.
*Name von der Redaktion geändert
Weitere Informationen
Wer sich jetzt schon darauf freut, nach dem Ende der Corona-Krise seine Hände nicht bei sich zu behalten, sondern die zurückgewonnene Körperlichkeit ausgiebig zu feiern, kann sich auf der Homepage von Hausgemacht schon mal informieren.
Bis dahin sei allen die XConfessions-App der Pornoproduzentin Erika Lust ans Herz gelegt. Sie bietet die Möglichkeit gemeinsam mit Partner*innen oder auch alleine sexuellen Fantasien nachzuspüren und sich auszutauschen.