Weil es jede Woche etwas gibt, das nach dem kleinen bisschen Meinung verlangt. Weil wir finden, dass frech und vorlaut immer besser ist als zahm und gefügig. Deshalb gibt unser Chefredakteur Max Bell kurz vorm Wochenende seinen Senf dazu. Er mischt sich ein, überall und immer. Damit wir wissen, was war, was ist und welche Themen ruhig noch ein bisschen (vor)lauter sein dürfen. Diese Woche: Wir sind zu dick und es bringt uns um. Wirklich!
Heute bewegen wir uns auf dünnem Eis. Zwischen Überlegungen der öffentlichen Gesundheit und der Verpflichtung, Menschen nicht zu verletzen liegt ein schmaler Grat. Gerade wenn es um Übergewicht geht, können viele Menschen nicht differenzieren. Die einen werfen übergewichtigen Menschen fälschlicherweise zügelloses Verhalten vor, beleidigen sie und machen sich lustig. Die andere Seite lehnt jede Diskussion über Adipositas als gesellschaftliches Phänomen ab und bemüht den Begriff „Fat Shaming“ überall, wo es auch nur peripher um das Problem Übergewicht geht.
Eine diese Woche veröffentlichte Studie des University College of London zeigt aber, warum wir unbedingt sachlich über dieses Thema reden müssen. „There was a linear increase in the risk of COVID-19 with increasing BMI […]”, heißt es dort. Bei einer Steigerung des BMI um 5 Punkte steigt das Risiko einer Hospitalisierung nach einer Covid-Infektion um 20 bis 30 Prozent. Menschen mit Adipositas sind demnach wesentlich stärker gefährdet als Menschen mit einer Krebserkrankung.
Spätestens, wenn man diese Zahlen sieht, muss einem klar werden, welches Risiko Übergewicht in der Corona-Krise birgt, ganz davon abgesehen, welche weiteren Implikationen es auf hohen Blutdruck, Diabetes und andere Erkrankungen hat, die zu einem verfrühten Tod führen können.
Warum reden wir also nicht richtig über Übergewicht? Weil es eine emotionale Sache ist, den eigenen Körper zu reflektieren. Wer hier den Fehler macht, machohaft „Facts don’t care about your feelings“ zu brüllen, ist nicht nur unproduktiv, sondern verursacht meist auch nutzlosen Schmerz. Jemandem zu sagen, er sei zu dick und müsse einfach abnehmen, bringt meist nichts.
Sensible Aufklärung ist nicht der Job des ungeschulten Einzelnen. Wir sind schlicht nicht kompetent genug. Vor allem, wenn es um eine ungesunde Beziehung zu Essen geht, müssen Informationskampagnen und niederschwellige Beratungsangebote diese Arbeit machen. Nur so kann man sicherstellen, dass durch Auseinandersetzung nicht nur noch mehr Schaden angerichtet wird.
Neben dieser Verpflichtung, der das öffentliche Gesundheitswesen nachkommen muss, braucht es aber auch einen scharfen Blick auf jene, die ein Interesse an Übergewicht und dessen Folgen haben.
Influencer-Diätprogramme und McDonalds Werbungen ergeben dabei einen tragischen Kreis. Erst suggeriert man, dass Genuss immer Unmengen an Fett, Zucker und Protein enthalten muss, dann bietet man eine Diät an, die zeitlich limitiert und wegen des Jojo-Effektes quasi nutzlos ist und schließlich bietet man wiederum eine Lösung für den Frust nach der gescheiterten Diät, glänzend abgelichtet auf einem Plakat: Den Big Mac.
Warum verbieten wir Tabakwerbungen, lassen aber jährlich Millionen Menschen an den Folgen von Übergewicht sterben, während Trash Food weiter aggressiv unter anderem an Kinder vermarktet wird? Diese Geschäftemacherei auf dem Rücken von Menschen, die in den meisten Fällen körperlich oder psychisch leiden, ist widerlich.
Um Ästhetisches geht es dabei freilich nicht. Ohne Frage können Menschen mit einem BMI über 30 schön sein. Die gesundheitspolitische Debatte muss aber scharf von der Schönheitsfrage getrennt werden. Viele finden schließlich auch Mister Olympia attraktiv, obwohl dieser vermutlich mit Steroiden vollgepumpt ist, die ihn impotent machen und früher oder später umbringen werden. Im Vergleich zu Bodybuilding und Anabolikamissbrauch ist Adipositas aber ein breitengesellschaftliches Problem. In 34 von 36 OECD Staaten ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Übergewicht betroffen und ein Viertel fettleibig. Gemeinsam mit Covid bildet diese Übergewichts-Pandemie ein gefährliches Zweigespann.
Wieder ist es wichtig zu betonen, dass das Individuum hier nicht im Vordergrund stehen sollte. Wenn die Hälfte der Bevölkerung von etwas betroffen ist, dann geht auch die Verantwortung über die Ebene des Einzelnen hinaus. Mehr Bewegung und gesünderes Essen müssten Ziel Nummer Eins in allen gesundheitspolitischen Programmen sein.
Wenn ihr also das nächste Mal unbedingt eine*n Bekannte*n aufs Gewicht ansprechen wollt: Lasst es. Setzt euch mit den systemischen Komponenten dieser größten Pandemie unserer Zeit auseinander und verändert den Diskurs mit produktiven Äußerungen ohne Einzelne zu bevormunden oder gar zu verurteilen.
Weitere Infos
Hier gehts zur zitierten Studie.
Comitted to the best obtainable version of the truth.