Welt ohne Gefängnisse – Utopie oder Zukunftsvision?

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Titelbild: © Matthey Ansley / Unsplash

Sicherheit, Gerechtigkeit und Resozialisierung. Seit mittlerweile mehr als 200 Jahren ist das Gefängnis die primäre Form des Strafvollzugs. Doch seine drei Versprechen an die Gesellschaft hat es nicht gehalten. Es wird Zeit, einen etwas utopischeren Blick in die Zukunft zu wagen. Kann eine Gesellschaft ohne Gefängnisse funktionieren?

Vor kurzem musste ich an eine Situation zurückdenken, die sich vor 20 Jahren irgendwo in Kroatien während eines Campingurlaubs mit einer befreundeten Familie zugetragen hat. Während meine Eltern damit beschäftigt waren, vier Kleinkinder in einem Supermarkt unter Kontrolle zu halten, gelang es einem von uns Kindern, unbemerkt eine Packung Hubba Bubba in die Hosentasche gleiten zu lassen. In einem Gebüsch hinter dem Parkplatz stopften wir uns gerade die Münder mit dem gestohlenen Schatz voll, als wir bereits die möglichen Konsequenzen unseres kleinen Verbrechens vor uns sahen. Es war weniger die Einsicht, etwas Falsches getan zu haben, sondern alleine die Angst, jemand könnte uns auf den Bildern der Überwachungskamera rückverfolgen, die uns dazu drängte, noch am selben Nachmittag in den Supermarkt zurückzukehren und unsere Tat beschämt zu gestehen.

Es mag nur ein Beispiel kindlicher Naivität sein, dennoch hat mich diese Erinnerung daran denken lassen, wie das Strafsystem eine jener gesellschaftlichen Institutionen ist, deren Selbstverständlichkeit uns schon im frühesten Alter greifbar ist. Es scheint eine logische Schlussfolgerung – wer ein Verbrechen begeht, der wird dafür bestraft. Unter welchen Bedingungen dieses Strafen stattfindet, darüber machen wir uns im Alltag dennoch nur allzu wenig Gedanken. Zurzeit verbüßen rund 8500 Menschen in Österreich eine Freiheitsstrafe, hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalten fristet also eine ganze Parallelgesellschaft ihr Leben. Grund genug, die Institution Gefängnis zum Thema einer gesellschaftlichen Debatte zu machen.

Hält das Gefängnis, was es verspricht?

Auch wenn das Gefängnis als primäre Form des Strafens heute alternativlos scheint, ist es in der Geschichte keineswegs selbstverständlich, dass Menschen eingesperrt werden. Die Einführung der Freiheitsstrafe vor mehr als 200 Jahren legitimierte sich als „humane“ Alternative zur Strafe an Leib und Leben in Form von Züchtigungen oder Folter. Das Gefängnis verspricht als Produkt der Moderne gesellschaftliches Gemeinwohl in Form von Sicherheit und Gerechtigkeit, aber auch für Straftäter*innen eine Möglichkeit, für ihr Fehlverhalten Verantwortung zu übernehmen und letztlich den Weg in den Kreis der Gesellschaft zurückzufinden. Doch wird dieses Versprechen auch gehalten?

Vor allem im letzten Jahrzehnt ist die „Resozialisierung“ zum Mittelpunkt der Argumentation des Strafvollzugs geworden. Moderne Gefängnisse bieten für Straftäter*innen Therapien, Ausbildungen und Berufsvorbereitungskurse, um sie zu befähigen, nach der Haft ein Leben ohne weitere Rechtskonflikte zu führen. Dass die Rückfallquote für Straftäter*innen in Österreich bei rund 50 Prozent liegt, spricht jedoch nicht gerade für die Funktionsfähigkeit dieses Systems. Expert*innen wie Thomas Galli, der als ehemaliger Leiter einer Haftanstalt gegenwärtig zu den meistzitierten kritischen Stimmen des modernen Strafvollzugs zählt, betonen immer wieder, dass Gefängnis und Resozialisierung einen Widerspruch in sich darstellen. Während einer Freiheitsstrafe kann das soziale Netz außerhalb des Gefängnisses oft nur schwer aufrecht erhalten werden, und auch nach der Haft enden Wohnungs- und Arbeitssuche oft in einer Sackgasse. Die Ausgrenzung und Stigmatisierung, die ehemaligen Straftäter*innen von der Gesellschaft entgegengebracht wird, lässt auch die Hemmung fallen, erneut gegen das Gesetz zu verstoßen.

Kriminalisierung von Armut

Als Grundprinzip unserer Rechtsordnung legt der Gleichheitssatz fest, dass allen Menschen vor dem Gesetz gleicher Schutz durch das Gesetz zuteil wird. Dennoch zeigt sich beim Blick in Haftanstalten, dass der Strafvollzug durch eine starke soziale Selektivität geprägt ist. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, die Gefängnisse wären voll mit Schwerstbetrüger*innen, Gewaltstraftäter*innen und Mörder*innen, fällt ein großer Teil der Straftaten, für die in österreichischen Justizvollzugsanstalten Freiheitsstrafen abgesessen werden, unter sogenannte „Armutsdelikte“ wie Diebstahl, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz oder etwa Ersatzhaft wegen nicht bezahlter Geldstrafen. Ein überwiegender Teil der Gefängnispopulation kommt aus einkommensschwachen Schichten, mit niedrigen Bildungsabschlüssen oder Migrationshintergrund. Das Gefängnis ist wie ein Spiegel für die Dysfunktionalität in unserer Gesellschaft, die Armut zuerst kriminalisiert und ohnehin schon marginalisierte Menschen nach der Haft mit den sozialen, psychischen und gesundheitlichen Folgen alleine lässt.

Industrie des Strafens

Warum wir uns die Abschaffung von Gefängnissen als gesellschaftliches Ziel setzen sollten, wird vor allem am Beispiel der Vereinigten Staaten deutlich. In keinem anderen Land der Erde sitzen mehr Menschen eine Haftstrafe in einem Gefängnis ab. Nach Angaben der Bürgerrechtsorganisation NAACP sind rund 21 Prozent der weltweit inhaftierten Personen in einem Gefängnis in den USA, obwohl ihr Anteil an der Weltbevölkerung nur bei 5 Prozent liegt. Dass diese Zahlen keineswegs auf eine besondere Funktionalität des Strafsystems schließen lassen, zeigt sich anhand des strukturellen Rassismus, der diesem System inhärent ist. Rund 56 Prozent der Inhaftierten in Gefängnissen in den USA sind Teil der afroamerikanischen oder hispanischen Bevölkerungsgruppe. Die Wahrscheinlichkeit für einen schwarzen US-amerikanischen Mann zumindest einmal im Leben im Gefängnis zu landen, liegt fünfmal höher als für einen weißen US-Amerikaner.

Es ist eine regelrechte Industrie, die sich rund um das Strafen herausgebildet hat, mit unzähligen privat betriebenen Strafanstalten, die Gewinn und ökonomischen Wettbewerb vor menschenwürdige Strafbedingungen stellen. Der geschätzte jährliche Umsatz des amerikanischen Gefängnissystems von 74 Milliarden Dollar stellt das Bruttoinlandsprodukt vieler Nationen der Welt in den Schatten.

In den vergangenen Jahren haben sich in den USA breite Protestbewegungen gegen den herrschenden Gefängniskomplex formiert. Die Erkenntnis zeigt deutlich, dass die Debatte um Gefängnisse keine um Gerechtigkeit oder öffentliche Sicherheit ist, sondern eine um Macht. Mit dieser Form des Strafvollzugs zu brechen, heißt auch, bestehende Machtverhältnisse in Frage zu stellen.

Utopien denkbar machen

Doch was nun? Wie lässt sich gesellschaftliches Zusammenleben organisieren, ohne jene Menschen wegzusperren, die eben diesem schaden? Über Alternativen zu diskutieren, erfordert auch Mut und den Willen, Utopien denkbar zu machen. Zunächst sollte dort angesetzt werden, wo Straffälligkeit beginnt und eine Entkriminalisierung von Armut stattfinden. In einer Welt ohne Gefängnisse müsste der Ungleichverteilung von Vermögenswerten aktiv entgegengewirkt werden. Die Sicherung aller sozialer Grundbedürfnisse, erschwinglicher Wohnraum, Teilhabe an der städtischen Infrastruktur sowie politische Mitspracherechte stellen für diese „Utopie“ wesentliche Voraussetzungen.

Grundlegend müsste die Sicht auf den Strafvollzug und unser Verständnis davon reformiert werden. Konzepte wie jenes der „Restorative Justice“, das Täter und Opfer gleichermaßen in den Mittelpunkt des Strafverfahrens stellt und versucht, Rechtsfrieden nicht durch Strafen sondern durch eine angemessene Wiedergutmachung des Schadens herzustellen, bieten hier gute Anhaltspunkte. Bei Straftaten, die der Gesellschaft als Ganzes schaden, wäre gemeinnützige Arbeit ein guter Weg, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben und Straftäter*innen wieder in diese zu integrieren. Bei jenen Menschen, wie etwa Serienmörder*innen, die für die Allgemeinheit eine zu große Gefahr darstellen, gilt es, einen menschenwürdigen Weg zu finden, sie vom Rest der Gesellschaft zu trennen.

Selbstverständlich gäbe es in einer Welt ohne Gefängnisse immer noch Unrecht und Gewalt, der wir uns als Gesellschaft stellen müssen. Doch anstatt Unrecht und Gewalt hinter den Mauern einer Haftanstalt aus unserem Blickfeld und Bewusstsein zu verbannen, hätten wir in einer Welt ohne Gefängnis einen Weg gefunden, uns aktiv damit auseinanderzusetzen.

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