Reisepass Russland

„Ich träume von der Schönheit Jerewans“ – junge Menschen verlassen Russland

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In Russland geht die Regierung hart gegen regierungskritische und pazifistische Bürger*innen vor. Auf der Suche nach Freiheit verlassen viele junge Russen und Russinnen das Land, Richtung Armenien, Georgien oder auch Israel. Zwei von ihnen erzählen ihre Geschichte.

Die Österreicherin Laura* hat bis vor ein paar Wochen in St. Petersburg studiert. Dann bricht in der Ukraine Krieg aus, der Westen verhängt weitreichende Sanktionen gegen Russland und Putin geht immer härter gegen kritische Stimmen und Demonstrant*innen vor. Laura zögert, doch Anfang März packt sie ihre Koffer, steigt in den Bus und fährt Richtung Estland, zurück auf europäischen Boden. Der Luftraum ist zwar bereits gesperrt, doch so kommt die Studentin aus Wien ohne Probleme über die Grenze. Für Menschen, die in Russland geboren sind, ist der Weg ins Ausland um einiges schwieriger. Der europäische Pass wird zum Privileg.

Auch Iwan* will weg aus Russland. Er ist Wissenschaftler und Journalist, bis vor ein paar Wochen war er Universitätsassistent in St. Petersburg. Gerüchte, der Kreml könnte in Russland das Kriegsrecht ausrufen, und die Befürchtung, er könne als Mann für den Krieg in der Ukraine eingezogen werden, machen ihm Angst. Bereits zwei Mal innerhalb des letzten Jahres stand die Polizei vor der Wohnungstür seiner Eltern, weil Iwan an mehreren Protesten gegen das Regime beteiligt war. Während Laura sich der estnischen Grenze nähert, fliegt er nach Moskau zu seiner Familie. Die Liste der Länder, in die er auswandern kann, ist beschränkt. Ohne internationalen Pass und ein europäisches Visum bleiben den meisten Armenien, Georgien, die Türkei oder Kasachstan. Eine Freundin vermittelt Iwan Kontakte in Jerewan, Armeniens Hauptstadt. „Ich habe nie davon geträumt, ein Flüchtling oder Emigrant zu sein“, sagt er. Trotzdem steigt er Anfang März in ein Flugzeug, das ihn aus Russland bringen soll. „Das Schwierigste an meiner Entscheidung war, mich von meiner Familie, meinen Eltern und meinen Großmüttern zu verabschieden.“ Es habe sich alles surreal angefühlt, erzählt Iwan, er habe bis zu dem Zeitpunkt, als das Flugzeug abhob, nicht glauben können, dass es nicht doch eine Alternative gibt, einen Plan B, in dem er seine Familie nicht zurücklassen müsste.

Aus Hoffnung wird Angst

Als Russland die Ukraine Ende Februar angreift, waren viele im Land schockiert, erzählt die 24-jährige Maryna*: „Auch wenn man von Truppen an der ukrainischen Grenze hörte, wir alle dachten, es wäre nur eine Provokation, wie immer.“ Nach dem Schock kommt die große Hoffnung: Jetzt ist es vorbei, jetzt wird sich die russische Gesellschaft auflehnen, das ist das Ende des Regimes. Doch Maryna muss, wie viele andere junge russische Bürger*innen, schnell realisieren, dass ihre Hoffnung naiv war. In den ersten Tagen überlegt sie, an einem der Anti-Kriegsproteste teilzunehmen, sie spaziert scheinbar unbeteiligt durch die Innenstadt von St. Petersburg, um zu sehen, wie viele kommen würden. Doch es werden nicht viele. Auf jeden Fall zu wenige, um sich in der Masse sicher zu fühlen. Maryna geht wieder nach Hause. Die meisten derer, die bleiben, werden verhaftet. Ein paar Tage später riskiert man durch die neuen Gesetze in Russland bis zu fünfzehn Jahre Haft, wenn man sich gegen den Krieg ausspricht oder an einem Protest teilnimmt. Um nicht völlig untätig zu sein, verteilt Maryna Sticker auf der Straße, auf denen „No War“ steht. Dann beobachtet sie, wie die russische Polizei die Aufkleber entfernt und durch Sticker mit dem Z-Zeichen ersetzt. Das macht ihr Angst, es erinnert sie an Hakenkreuze.

Bevor Iwan zur Zollschranke am Flughafen kommt, löscht er alle Inhalte von seinem Handy: Er leert seine Chats auf Telegram und entfernt alle Fotos, bis seine digitale Existenz ausradiert ist und keine Rückschlüsse darauf erlaubt, was er denkt und warum er das Land verlassen will. Denn immer wieder hört man von Menschen, die von der Polizei am Flughafen an der Grenze aufgehalten, befragt und durchsucht werden. Ein Beamter fragt Ivan nach dem Grund seiner Reise. „Ich bin Tourist und träume schon lange von der Schönheit Jerewans“, sagt er und wird durchgelassen.

„Ich träume von einem freien Russland“

Nach ein paar Tagen beginnt Maryna zu verstehen, dass das ersehnte Ende des Regimes nicht so schnell eintreten wird. „Ich habe realisiert, dass wirklich viele Menschen diesen Krieg unterstützen, vor allem Ältere und Leute, die fernsehen. Die glauben wirklich, dass Russland die Ukraine von Nazis befreit. Die glauben einfach alles. Ich weiß nicht, wie ich in dieser Gesellschaft leben soll, in der so viele Menschen so etwas akzeptieren und wie Zombies der Propaganda folgen“, erzählt die Studentin. Also beschließt auch sie, das Land für längere Zeit zu verlassen. Im Gegensatz zu Iwan hält sie zu dem Zeitpunkt, als ihre Entscheidung fällt, das Visum bereits in der Hand. Schon vor Kriegsausbruch hatte sie als Russin mit jüdischen Wurzeln die israelische Staatsbürgerschaft beantragt, die Reise nach Israel war schon länger geplant. Doch anstatt als Urlauberin einzureisen, kommt sie als Emigrantin in Israel an. Ihr Vater und seine Frau werden wieder nach Russland zurückfahren, ihre Mutter ist in St. Petersburg geblieben. Irgendwann will auch Maryna zurück in ihr Heimatland: „Ich war schon an vielen Orten, aber St. Petersburg ist für mich eine der schönsten Städte. Ich bin an Russland gebunden, dort sind meine Mutter und meine Schwester, meine Freunde. Ich würde gerne zurückkommen, in ein freies, ein neues Russland“, sagt sie hoffnungsvoll.

Davon träumen die meisten, die eines der Flugzeuge besteigen, die die Ausreisenden außer Landes bringen. Iwan klingt resigniert, als er von der Hoffnung erzählt, die russische Bevölkerung könne sich bald von Putin abwenden. „Ich sehe bei meinen Freunden, dass jeder versucht, etwas zu finden, an das man noch glauben kann. Manche legen ihre Hoffnung in das Umfeld Putins, andere in große Proteste. Ich finde es sehr schwierig, daran zu glauben. Die Geschichte der Proteste in Russland hat gezeigt, dass sie zu nichts führen“, sagt er.

Jung und privilegiert

Weit in die Zukunft zu denken und zu planen, scheint ohnedies nichts zu sein, auf das sich Ivan oder Maryna verlassen wollen. Niemand weiß, was in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen passieren wird. Iwan lernt Armenisch und sieht sich nach Jobs um, auch wenn das schwierig werden dürfte: „Fast jeder meiner Freunde hat seinen Job verloren, die meisten waren Journalisten. Wie findet man eine Anstellung in einer Welt, in der jeder gerade seinen Job verloren hat?“, fragt er. Die meisten russischen Emigrant*innen seien jung, kinderlos und hätten Jobs, in denen sie überall arbeiten können. Gleich zu Beginn seien viele IT-Spezialist*innen ausgereist, auch weil große Firmen wie JetBrains ihre Büros nach Armenien verlegt hätten, erklärt Maryna. Die russische Regierung habe sogar versucht, IT-Fachkräfte mit Begünstigungen und Privilegien im Land zu halten. Doch Flüge kosten Geld, der Rubel verliert an Wert und nicht allen ist es möglich, im Ausland ein neues Leben zu beginnen. „Viele Leute vergleichen diese Emigration mit dem, was vor 100 Jahren, vor der russischen Revolution passierte, als alle Philosophen, Künstler, die ganze Boheme, Aristokraten und Intellektuelle, das Land verließen, weil sie fürchteten, umgebracht zu werden. Das klingt dann romantisch”, lacht Maryna.

Als Laura zurück nach Österreich kommt, muss sie sich nicht für den Krieg verantworten, den ihr ehemaliges Gastland gegen die Ukraine führt. Maryna tut es weh, dass die russische Kultur mit Putins Regime in Verbindung gebracht wird. „Ich finde es nicht fair, aber ich kann es verstehen“, sagt sie. Sie empfindet Scham, aber keine Schuld. Die Handlungen des Regimes in Russland hätten nichts mit ihr zu tun, meint Maryna. „Sie sagen, dass sie die russische Welt wiederherstellen wollen, aber alles was sie tun, ist die russische Kultur zu zerstören.“

Trotzdem wird Iwan in Armenien und Maryna in Israel gastfreundlich aufgenommen, von Ressentiments gegenüber russischen Bürger*innen spüren sie wenig, auch wenn die Inflation in Armenien ebenfalls stark zu spüren werden wird. Denn Jerewan sei momentan voll mit Emigrant*innen aus Russland: „Wenn ich spazieren gehe, treffe ich ständig zufällig Freunde oder Bekannte auf der Straße. Du hast dein Land verlassen, aber findest dich an einem Ort wieder, wo so viele deiner Landsleute jetzt leben.“

Zerissenes Russland

Im Exil hat Iwan noch niemanden getroffen, der Putin offen unterstützen würde. In Russland hingegen ziehe sich mehr und mehr eine Mauer auf, zwischen den Generationen, zwischen Unterstützer*innen und Kriegsgegnern, zwischen Freundschaften und Familien, erzählt Maryna. Sie ist erleichtert, dass ihre Eltern den Krieg nicht unterstützen, denn bei vielen ihrer Freund*innen wurde der Krieg in der Ukraine zu einem Konflikt, der ganze Familien spaltet. „Ich könnte mir das nicht vorstellen. Da ist deine Mutter und dein Vater und zwischen euch steht ein Krieg“, spricht sie weiter. Für viele Kinder der Kriegsunterstützer*innen entstehen diese Brüche nicht von einem Moment auf den anderen, aber dennoch unerwartet. Vor dem Angriff auf die Ukraine gaben sich viele unpolitisch und gleichgültig, behaupteten, sie würden sich bloß Sorgen machen, wenn ihre Kinder zu den Protesten gingen. „Doch in einer Situation wie dieser kann man nicht apolitisch bleiben. Jetzt kannst du nicht sagen, dass es dir egal ist, weil es das Leben von allen betrifft“, erklärt Maryna.

Doch es gibt auch Hoffnung für die jungen, regierungskritischen Emigrant*innen. Iwan erzählt von seiner Großmutter, die sich ausschließlich über die Regierungssender informiert: „Als ich das letzte Mal in Moskau war, hatte sich ihre Stimmung verändert. Sie ist von all diesen Dingen betroffen, sie spürt, dass Menschen in der Ukraine sterben, nicht nur Soldaten. Und sie fühlt sich schrecklich, auch wenn sie jeden Tag die Propaganda hört.“

Täglich verlassen junge Menschen wie Maryna, Amelie oder Iwan das Land, Richtung Westen, nach Israel oder in postsowjetische Staaten. Wie viele es sind, lässt sich schwer sagen. Die Schätzungen liegen weit auseinander. Sie lassen ihren Alltag, ihre Freund*innen, ihre Familien zurück, um im Ausland Sicherheit und Freiheit zu finden. Laura kommt als Österreicherin in ihre Heimat zurück, Maryna und Iwan versuchen, sich ein neues Zuhause aufzubauen und sich in der Welt zurechtzufinden, während ihr Heimatland für einen schrecklichen Krieg verantwortlich ist, den sie nie gewollt haben.


*Namen durch die Redaktion geändert

Titebild: (c) Alexander-nrjwolf/unsplash.com

 

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