Der Krieg in der Ukraine hat viele sprachlos zurückgelassen. Im Interview erzählt Autorin, Übersetzerin und Sprecherin des Ukrainischen Medienzentrums Ganna Gnedkova von der Macht der Worte und der aktuellen Situation.
Flucht und Rettungsplan
Seit dem Krieg in Syrien
gehe ich jeden Tag in Wien
an einem Graffiti vorbei
Refugees Welcome
korrigiert
Refugees NOT Welcome
korrigiert
ALL Refugees NOT Welcome
korrigiert
NOT ALL Refugees NOT Welcome
Eine Weile hält sich
dieser Spruch
März 22
eine neue Korrektur
Ukrainian NOT ALL Refugees NOT Welcome
Alles beginnt von vorne
für Menschen in NOT
Du bist Autorin, Übersetzerin, Journalistin: Worte sind Deine stärksten Waffen. Viele aber verlieren gerade den Glauben daran, dass die Feder mächtiger ist als das Schwert. Was ist für Dich die Bedeutung von Literatur in Zeiten des Krieges?
Vor kurzem hat die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk auf Facebook ein Gedicht von Wassyl Stus geteilt: „Selbstbildnis mit Kerze“. In den Kommentaren dazu hat jemand geschrieben, dieses Gedicht passe sehr gut zu unserer Zeit, der Zeit des Krieges, worauf Maljartschuk geantwortet hat: „Zu dieser Zeit passen leider fast alle ukrainischen Gedichte“.
Ich habe auch diesen Eindruck. Die ukrainische Literatur ist von Kämpfen gegen Imperien und Okkupanten geprägt, sie transportiert die Erinnerung daran und sie transportiert eine Warnung, eine Prophezeiung – leider ist es eine Kassandra-Prophezeiung, denn wir tendieren immer wieder dazu, ihr nicht zu glauben und in die Falle zu treten, vor der man uns seit Jahrhunderten warnt.
Heute lese ich diese Literatur – die Tagebücher Wolodymyr Wynnytschenkos, die Briefe Lessja Ukrajinkas – mit anderen Augen. Ich verstehe die Verzweiflung, mit der Lessja Ukrajinka in ihrem berühmten Gedicht fragt: „Wort, warum bist du nicht harter Granit?“.
Im aktuellen Informationskrieg kommt es oft vor, dass man dasselbe Bild auf zwei Seiten der Front unterschiedlich interpretiert. Daran merkt man, dass nicht das Bild an sich, sondern das Narrativ entscheidend ist.
„Sind Ukrainisch und Russisch unterschiedliche Sprachen?“, fragt man in einer Anekdote, die ich vor kurzem gelesen habe. „Klar!“, lautet die Antwort, „Zu Krieg sagt man in der Ukraine війна (ukr. Krieg), in Russland hingegen – спецоперация (rus. Spezialoperation)“.
Wie mächtig Worte sein können, zeigen die Begrifflichkeiten, die immer wieder entstehen: In der Ukraine herrscht seit 2014 Krieg, der oft nur als Konflikt bezeichnet wird. Seit Ende Februar fliehen so viele Menschen wie nie zuvor aus dem Land, „refugees“ laut dem Graffiti im Gedicht: Flüchtlinge, Geflüchtete, Vertriebene, Schutzsuchende – was bedeuten diese Begriffe? Was bringen sie mit sich?
2020 habe ich in meinem ersten eigenen Text, der später den Exil-Literaturpreis für Lyrik gewonnen hat, folgende Worte geschrieben: „Antiterroristische Operation. / Konflikt im Osten. / Ukrainische Krise. / Ich darf / – wenn ich will – / Krieg nicht Krieg nennen“. Im Jahre 2020 war es nicht vielen Medien bewusst, welche Worte sie von der russischen Propaganda entlehnen, um über die Ukraine zu sprechen.
Apropos Exil und Flucht: Viele ukrainische Familien, die auf der Flucht sind, sagen, dass sie sich mit dem Wort „Flüchtlinge“ – „біженці“ (wörtliche Übersetzung „die Rennenden“, „die Fliehenden“) – nicht identifizieren können. Einige werden vielleicht in der EU bleiben. Aber alle, mit denen ich geredet habe, träumen davon, zurückzukehren, um die Ukraine wiederaufzubauen. Der einzige Begriff, den sie für halbwegs passend gehalten haben, war „temporär Vertriebene“, und sie wollten unbedingt das Adjektiv „temporär“ dabei haben, als Hoffnung, als Versprechen, dass sie ihr Zuhause nicht für immer verloren haben. Die „Schutzsuchenden“ ist ein weiterer Begriff, den man verwenden könnte.
Noch ein Gedicht, das ich 2020 geschrieben habe, kommt mir in den Sinn: „Wir sitzen auf unseren Koffern“. Für mich ist dieses Sitzen auf den Koffern ein permanenter Zustand, wie das Warten auf Godot. Seit man die Grenze der Heimat passiert hat, wartet man auf das Gefühl, woanders angekommen zu sein, und das Gefühl kommt einfach nicht.
Dein Gedicht erzählt auf einprägsame Art von der Absurdität des Konzepts von Grenzen. Wie hast Du die „Festung Europa“ bisher wahrgenommen?
Absurd ist das Konzept wohl nicht – aus meiner Sicht … Grenzen braucht man schon. Aber ich gebe Steffen Mau, dem Autor des Buches „Sortiermaschinen“, Recht, dass dieses Konzept im 21. Jahrhundert neu erfunden wurde. Laut Mau irren sich jene, die die Globalisierung ausschließlich als Öffnung der Mobilitätsräume verstehen. Parallel zum Öffnungsprozess verläuft auch ein Schließungsprozess, und dieser Prozess gehört auch zur Dialektik der Globalisierung. Das sind zwei Seiten einer Medaille.
Die Grenzen sind nicht verschwunden, sie haben eine Filterfunktion übernommen. Manche Gruppen werden mobiler, manche werden zurückgewiesen. Daher spricht der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman von „Glokalisierung“.
Ich glaube, ich gehöre in die Gruppe, die mehr oder weniger privilegiert ist. Die Ukraine ist kein Teil der EU. Das bedeutet, dass ich an der Grenze strenger und aufmerksamer als jeder EU-Bürger kontrolliert werde. Auf meinem Weg zum Aufenthaltstitel für Studierende in Österreich musste ich mich mit vielen bürokratischen Hürden auseinandersetzen. Es war für mich nicht leicht, einen Nebenjob zu finden, denn ich hatte keinen freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Ich habe auf meinen ersten AMS-Bescheid fast zwei Monate gewartet. Nicht jeder Arbeitgeber hat so viel Zeit und Geduld. Die EU-Bürger*innen haben es im Vergleich zu mir viel leichter. Aber es gibt auch Gruppen, die weniger Privilegien haben als ich.
Was hat sich verändert?
Wegen des Krieges hat Europa die Einreiseregeln für ukrainische Schutzsuchende geändert und das Passieren der Grenze bürokratisch leichter gestaltet. In Österreich können Schutzsuchende nicht nur den Asylstatus, sondern auch die sogenannte „blaue Aufenthaltskarte“ beanspruchen.
Diese Entscheidung hat viele neidisch gemacht: manche ukrainische Emigrant*innen, die vor 2022 nach Österreich gekommen sind, aber auch Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan … Zum Teil kann ich die Empörung nachvollziehen. Zum Teil wünsche ich mir, dass die erlebte Kriegserfahrung die Menschen in Not einander näherbringt, statt umgekehrt. Ich wünsche mir, dass man den Ukraine-Helfer*innen nicht unterschwellig Rassismus vorwirft. Oftmals sind es dieselben Leute, die auch den Geflüchteten aus anderen Ländern geholfen haben. Generell sollte sich die Kritik an die Nicht-Helfenden richten, statt an die Helfenden. Ich sehe schon kommen, dass auch die ukrainischen Schutzsuchenden in mehr und weniger privilegierte Gruppen aufgeteilt werden.
Was sollte sich ändern?
Vielleicht lernt man an unserem Krieg gegen den russischen Aggressor, dass die Welt gegen jeden Krieg entschlossener und vereinter handeln sollte. Dass man Kriege am Beginn, im besten Fall vor dem Beginn stoppen sollte. Dass man sich für die wahren Hintergründe der Kriege interessieren sollte. Dafür sollten die Medien sich unabhängig machen von großen Propagandanarrativen der Täter und dem Opfer eine Stimme verleihen.
Noch ein Problem sehe ich darin, dass die Medien jetzt für eine Vielfalt ukrainischer Stimmen sorgen, ohne diesen Stimmen gründlich zuzuhören. Von Interesse sind emotionale Geschichten und Tagebücher. Weniger interessant, (manchmal sogar aus den Interviews ausgeschnitten) sind produktive Vorschläge und konstruktive Kritik. Man sorgt nur für den Schein dessen, dass uns zugehört wird. Und mit jedem Monat wird das Interesse an dem Thema geringer werden. Neue Themen werden für Ablenkung sorgen. Russland kümmert sich bereits heute um solche Ablenkungen. Aber sogar ohne Russland ist das leider ein natürliches Phänomen: Der Krieg verliert langsam seinen Neuigkeitswert, man gewöhnt sich an die Nachrichten von der Front (“im Osten nichts neues”). Man gewöhnt sich an die Bitten um Spenden. Man spendet jede Woche weniger.
Deine Familie, Deine Freund*innen – viele von ihnen sind in der Ukraine geblieben, haben sich dem Kampf angeschlossen, Du arbeitest von Wien aus aktiv mit. Wie ist die Kommunikation zwischen der ukrainischen Community hier und euren Leuten im Kriegsgebiet?
Alles funktioniert wie ein großes Netz. Jeder hat mittlerweile seine Nische gefunden und macht das, was er/sie am besten kann. Die Suche nach Medikamenten oder Unterkünften ist nicht meine Stärke. Aber ich kenne einige Freiwillige, die ihrerseits weitere Freiwillige kennen, die … am Ende dieser Kette vertrauter Personen findet sich bestimmt das, was gebraucht wird.
Das Medienzentrum der Ukrainischen Community in Wien arbeitet Tag und Nacht an Interviews, Artikeln, Essays, an der Organisation von Demonstrationen und Veranstaltungen. Die Arbeit an Essays und Interviews bringt nicht sofort ihre Früchte. Die Veröffentlichung mancher Texte wird von deutschsprachigen Medien lange aufgeschoben und man kriegt manchmal das unangenehme Gefühl, dass die Arbeit still steht, obwohl das nicht stimmt.
Meine in der Ukraine gebliebenen Freund*innen versuchen mich in solchen Fällen zu beruhigen. Es fühlt sich komisch an, denn ich sollte diejenige sein, die sie beruhigt. Aber tatsächlich ist es so, dass sie mich oft daran erinnern, wie wichtig das, was unser Medienzentrum bereits gemacht hat, ist, wie wichtig es ist, dass ich genug schlafe. Sie, die in Kellern sitzen und kaum schlafen können, wünschen sich, dass zumindest ich in der Nacht schlafen kann.
In Deiner Arbeit als Übersetzerin hast Du bisher hauptsächlich vom Deutschen ins Ukrainische übersetzt. Gerade arbeitest Du aber mit Deinem Ehemann, dem Schriftsteller Peter Marius Huemer, an der Übersetzung des Debütromans von W. Domontowytsch aus dem Jahre 1928. Verändert sich die Arbeit?
Die Übersetzung ist schon fertig, genauso wie das Buchcover. Auf dem Cover sieht man meine Heimatstadt Kyjiw/Kiew in den 1920er Jahren. Das ist die Stadt, in der die erste Hälfte des Romans „Das Mädchen mit dem Bären“ spielt. Es tut mir weh, mir das Coverfoto anzusehen, denn ich frage mich, wie meine Heimatstadt nach dem Krieg in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts aussehen wird.
Die 20er des vorigen Jahrhunderts waren sehr produktive Jahre für die ukrainische Literatur. Im Zuge der Ukrainisierungspolitik sind damals viele Meisterwerke ukrainischer Literat*innen entstanden. Schon in den 30er Jahren war das zu Ende.
Walerjan Pidmohylnyj, dessen Roman „Die Stadt“, übrigens auch ein Kyjiwer Roman, gerade im Guggolz Verlag erschienen ist – übersetzt von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok – wurde am 3. November 1937 zusammen mit 1000 anderen hingerichtet. Unter den Erschossenen waren auch solche ukrainischen Künstler wie Mykola Serow, Walerjan Polischtschuk, Les Kurbas, Mykola Kulisch, Julian Schpol. W. Domontowytsch musste angeblich zum Spion werden, um zu überleben.
Immer mehr Stimmen fordern mehr Raum für ukrainische Literatur auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt. Kannst Du Bücher empfehlen, die bereits übersetzt sind?
Bitte unbedingt Walerjan Pidmohylnyj und W. Domontowytsch lesen – das ist sehr gute ukrainische Prosa, die heute gerade wieder aktuell ist. Serhij Zhadans Gedichte sollte man lesen – er wurde von der Polnischen Akademie der Wissenschaft für den Literaturnobelpreis nominiert. Sein Roman „Internat“ könnte auch helfen, die Hintergründe unseres Krieges besser zu verstehen. Oksana Sabuschko ist eine weitere wichtige Autorin. Ihre Romane und eine ihrer neuesten Essaysammlungen mit dem Titel „Planet Wermut“ sind beim Droschl Verlag erschienen. Bald erscheint auch das “Tagebuch aus Kiew” von Yevgenia Belorusets. Einige Auszüge kann man bereits bei Spiegel.de lesen. Ich hoffe, dass zeitgenössische ukrainische Literatur jetzt aktiver übersetzt wird.
Zuletzt, um nicht nur gegen die Sprachlosigkeit, sondern auch die Hilflosigkeit anzukämpfen: Was können unsere Leser*innen tun, um die Ukraine zu unterstützen?
Spenden, temporäre Unterkünfte anbieten, ukrainische Demonstrationen und Benefizkonzerte besuchen – ich bin überzeugt, dass man das bereits macht, und bedanke mich dafür. Auch ist es wichtig, ukrainischen Stimmen in den Medien zu folgen, nur vertrauenswürdigen Medien zu folgen und Informationen zu prüfen. Gerne auch Informationen teilen.
Ich würde mich freuen, wenn man die Facebook-Seite unseres Medienzentrums, die wir gerade entwickeln, und meine eigene abonniert. Sollte man selbst für ein Medium arbeiten oder Medienkontakte haben, zögert bitte nicht, meldet euch einfach bei mir. Mit Interviews, Artikeln, Essays stehen meine Kolleg*innen und ich immer gerne zur Verfügung.
Weitere Informationen
Hier kann man für die Ukraine spenden
Das Medienzentrum der Ukrainischen Community in Wien ist eine Initiative gegründet von ukrainischen Expert*innen, Journalist*innen, Publizist*innen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die in Wien arbeiten, sowie Personen, die gezwungen waren, die Ukraine wegen der russischen Invasion zu verlassen und temporär Zuflucht in Österreich zu suchen.
Facebook: Medienzentrum der Ukrainischen Community – Медіацентр української громади | Facebook
E-Mail-Adresse: uacommunitymediacenter@gmail.com
Geboren wurde Ganna Gnedkova 1992 in Kyjiw in der Ukraine. Sie wuchs zweisprachig auf. An der Kyjiw-Mohyla Akademie und der Universität Wien studierte sie Komparatistik. Sie ist Wissenschaftlerin, Buchkritikerin, Journalistin, Schullehrerin. Seit 2016 übersetzt sie Belletristik und Sachbücher vom Englischen und Deutschen ins Ukrainische und umgekehrt.
Im Jahr 2020 hat ihr erster eigener Text Mein Name sei G. den Exil-Literaturpreis für Lyrik gewonnen. Außerdem war sie unter den Gewinner*innen des Godesberger Literaturpreises und des goldenen Pod Preises für Kurzprosa. 2022 erhielt sie das Raniser Debüt Stipendium und schreibt an der Erzählsammlung mit dem Arbeitstitel Das Kind und der Tod.
Ganna Gnedkova lebt in Wien und ist mit dem österreichischen Schriftsteller Peter Marius Huemer verheiratet. Seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine ist sie Ansprechperson des Medienzentrums der Ukrainischen Community in Wien.
Facebook: Ganna Gnedkova | Facebook
Ukrainische Medien auf Englisch:
Kyiv Independent
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Radio Liberty
Ukrainische Medien auf Deutsch
Titelbild: (c) Peter Marius Huemer
Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.
.. Worte können trösten, Worte können töten… Worte haben Macht