Autor und Regisseur Calle Fuhr erzählt kurz bevor er die erste Folge von Encore veröffentlicht in einer Instagram Story, dass er das Proben vermisst. Er vermisst es mit Schauspieler*innen in den Modus des Spiels einzutauchen und beschließt mit der Serie seiner Verpflichtung als Kulturschaffender nachzugehen. Was das genau bedeutet, hat er wolfgang aus Berlin per Sprachnachricht erzählt.
Obwohl die Covid-19 Krise nur einen Bruchteil der Menschheitsgeschichte ausmachen wird, ist jener Virus buchstäblich in aller Munde. Jede*r von uns hat momentan Einbußen zu verzeichnen und mindestens ein Ereignis, das vom Virus verschlungen worden ist. Manchen fällt es besonders schwer diese Situation als kollektive Krise wahrzunehmen, statt als persönlichen Angriff auf die Privatsphäre. Gestern wurde von der Regierung verkündet, dass wir erst am Anfang dieser Ausnahmesituation stehen und ich frage mich, ob die Kilometeranzahl des Marathons (42,2) metaphorisch für Tage, Wochen oder Monate stehen. Es gibt nicht den einen Weg mit der Pandemie im Privaten umzugehen, außer sich an die Regierungsmaßnahmen zu halten. Instagram sagt am häufigsten: Kochen, Putzen, Sport, Alkohol. Instagram sagt aber auch Encore. Was das bedeutet, habe ich den Regisseur Calle Fuhr in einem Interview gefragt.
Was ist Encore und wie kam es dazu?
Der Motor für Encore war auf jeden Fall, dass mich die Strategie vieler Theaterhäuser irritiert hat, digital ihre Präsenz zu zeigen. Schauspieler*innen saßen plötzlich privat vor ihrer Kamera und haben etwas über ihr Lieblingbuch erzählt. Sie haben sich also plötzlich privat geäußert. Was mir aber so an dieser Situation fehlt, ist das Spiel. Das machen wir ja im Theater, wir tun so als wären wir jemand anderer, aber sind es nicht. Die Magie ist weg. Das was unser Medium ausmacht, das Spielen, ist weg. Aus dieser Sehnsucht heraus, dass ich wieder dem nachgehen will, was ich am meisten liebe, habe ich angefangen zu schreiben. Man kann in einer anderen Rolle nämlich plötzlich über Ängste und Sorgen reden und kann sich auf einer Ebene begegnen, die es sonst nicht gibt. Das wollte ich zurück. Deshalb mache ich das. Das könnte aber alles nicht stattfinden, wenn es nicht infamous.at geben würde. Sonst wären das nur Webcam Videos ohne schöne Aufarbeitung.
Bleibt es ein Quaratäneprojekt, oder wird es auch auf der analogen Bühne gespielt werden?
Das Tolle an dem Format ist, dass es nicht abendfüllend sein muss. Das ist im analogen Theater ja etwas anderes. Wenn die Leute extra ins Theater kommen, sollte der Abend etwas länger als sieben Minuten sein. Mir macht es gerade extrem viel Freude, mich so kurz halten zu dürfen und kleine Ideen trotzdem schreiben, proben und spielen lassen zu dürfen. Ich muss die Ideen nicht ausquetschen, sondern die Texte dürfen für sich so existieren. Ob das im Analogen funktioniert, habe ich mich noch nicht gefragt. Ich frage mich aber, wie lange das noch gehen kann. Wenn diese Ausnahmesituation abgeklungen ist, muss man schauen, ob die Arbeit das überhaupt noch zulässt, weil es doch sehr arbeitsintensiv ist. Aber mir geben der Prozess und die Reaktionen darauf so viel. Auch wenn die Ausgangsperre aufgehoben ist, möchte ich das nicht vermissen. Das Tolle daran ist ja auch, dass man Theater machen kann mit Menschen, die gar nicht in deiner Stadt sind. Ich arbeite jetzt teilweise mit mir unbekannten Leuten, die ich vielleicht nur über Instagram kenne.
Ein Motiv auswählen und dann einen Stoff daraus basteln ist gerade mit tagesaktuellen Themen nicht ganz einfach. In Encore scheint diese Problematik jedoch nicht zu existieren. Jeden Tag kommt ein neuer Text, der aus einem sehr spezifischen Blickwinkel über die derzeitige Stuation berichtet. Wie machst du das tagtäglich?
Es ist tatsächlich ein super naiver Prozess. Ich frage mich einfach, was macht eigentlich eine Steuerberaterin jetzt, wie ist das für die? Wie ist es, wenn man sich jetzt gerade verlieben möchte, wenn man jetzt einfach raus will, wie wäre das so? Es ist also erstmal ein Gedankenspiel. Eine Frage kommt auf, indem ich irgendetwas gelesen habe, oder teilweise sind es auch private Sachen, die ich einflechte. Dann suche ich nach einem Trick (lacht), aus dem eine Verdrehung entsteht. Ich schaue mir also an, was eine bestimmte Person eigentlich sagen würde und verdrehe sie ins Gegenteil. Das ist gerade einfach total befreiend. Weil ich natürlich auch super Schiss habe. Was passiert? Was wird noch passieren? Mit Encore kann ich meine Fragen, meine Zweifel, meine Ängste direkt in etwas Künstlerisches umwandeln und es teilen. Es melden sich darauf zum Beispiel Personen bei mir, die das zum Nachdenken oder Lachen bringt und das ist doch super schön.
Zu deinen Inszenierungen: Was ist es denn, was dich an einem Text fasziniert? Gibt es bestimmte Motive, die du besonders spannend findest?
Das ist ein Entwicklungsprozess. Einen Schiller muss ich erstmal nicht inszenieren. Heiner Müller hat mich zum Beispiel vor ein paar Jahren sehr interessiert. Ich verändere mich und damit auch mein Blick auf Texte. Am Anfang war ich von Sprache total angezogen. Im Zuge von Bewerbungsgesprächen musste ich oft beantworten, was denn so mein Interessensgebiet sei. Das kann ich überhaupt nicht benennen. Ich habe keinen blassen Schimmer und denk mir irgendeinen Quark aus. Ich habe nicht das eine Thema. Es geht mir nur darum, ob ein Text etwas mit mir macht, ob er mich berührt. Ich bin kein Intellektueller, sondern ein Erzähler. Wenn es ein Motiv gibt, dann vielleicht: Will dieser Text etwas erzählen und kann ich etwas über diesen Text erzählen, was mir wichtig ist? Das kann auch nur ein innerlicher Impuls sein. Genau aus diesem Grund habe ich auch selber angefangen Texte zu schreiben. Ich habe einfach nichts mehr gefunden, was mich interessiert hat. So hat sich für mich im ganzen Theaterbetrieb etwas verändert. Man ist dann irgendwie bei Schiller damit beschäftigt, dass alles sehr sexistisch ist und die Frauen irgendwie nie reden. Damit ist man in so einem Nischen-Hobby angekommen, wo man alte Texte entstaubt. Das hat mich gelangweilt.
Ich sehe unsere Verantwortung als Kulturschaffende in etwas Größerem. Wir müssen ein Spiegel der Zeit sein und uns relevante Fragen stellen. Ich glaube das Friedrich Schiller nicht die Antwort ist. Nix gegen den, ich könnte auch Goethe oder Lessing nennen. Ich sehe keine neuen Fragen oder Antworten. Man ist oft so darin gefesselt, eine Adaption zu machen. Aber bringt das wirklich was? Eher selten. Wenn, dann bewirkt das Theater an sich etwas. Ich suche lieber im Hier und Jetzt nach den Fragen, nach den Situationen, nach den Sätzen, die mich bewegen.
Du wirst in Interviews sehr oft auf dein Alter angesprochen. Stört dich das? Spürst du in deinem beruflichen Umfeld eine gewisse Benachteiligung diesbezüglich?
Ich werde extrem oft danach gefragt. Ohne Bart würden die mich an der Pforte vermutlich nach dem Ausweis fragen. Es hat aber keine negativen Auswirkungen bis jetzt. Alter war nie ein Qualitätsmerkmal im Theater. Klar ist Erfahrung ein Merkmal, aber wichtig sind vor allem verschiedene Blickwinkel. Im Theater spielt Perfektionismus ja keine Rolle, hier ist vor allem das Rohe und Unvollkommene wichtig. Das ist gut für mich.
Vielen Dank!
Als Kulturschaffender hat Calle mit „Encore“ eine weitere Lesereihe gestartet. Dabei handelt es sich aber nicht um privates Geschwafel aus dem Lieblingsbuch, sondern um echtes Theater. Virtuell und ohne Vorschriften. In den bisherigen sieben Folgen haben die Schauspieler*innen Sören Kneidl, Deniz Orta, Eidin Jalali, Mala Emde, Katharina Stark, Christoph Franken und Johannes Nussbaum performt.
Titelbild © Jean Noyer
Weitere Informationen
Encore auf infamous.at und auf Instagram
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