Melisa Erkurt ist Journalistin, Bildungsexpertin und erfolgreiche Autorin. Im August 2020 erschien ihr vielbeachtetes Buch „Generation Haram – Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“. Als Kind mit ihrer Mutter vor dem Bosnienkrieg nach Österreich geflüchtet, beschreibt sie mit einer Mischung aus eigener Erfahrung und Expertise aus ihrer Zeit als Schulprojektleiterin und Lehrerin an einer Wiener AHS ein defektes Bildungssystem, welches Schüler*innen mit Migrationsbiografie strukturell benachteiligt und diskriminiert. Wir durften Melisa Erkurt zu einem Interview über Skype treffen und sprachen mit ihr über Covid-19 und die soziale Kluft in Österreichs Schulklassen, die bevorstehende UG-Novelle und was getan werden müsste, um Rassismus im Bildungssystem zu beseitigen.
Paula Rossi: In der Schule, in Medien, Politik und vielen anderen Feldern sind heutzutage vermehrt Personen präsent, an denen sich Kinder und Jugendliche mit Migrationsbiografie ein Vorbild nehmen können. Zu deiner Schulzeit war das vermutlich noch anders. Wer hat dich damals motiviert?
Melisa Erkurt: Echt, sind sie mehr präsent? In den Medien, oder wie meinst du? Wo sind sie präsent?
Mehr, nicht viel, nicht genug.
Nein, nein, es war eine ehrliche Frage. Zu meiner Zeit gab es vielleicht Arabella Kiesbauer, die „anders“ ausgesehen hat, aber sonst gab es keine Vorbilder. Ich glaube aber, dass es heute noch immer keine gibt. Weil die, welche du jetzt vielleicht meinst und ich vielleicht auch kenne, die kennen halt die Schülerinnen und Schüler nicht wirklich. Ich glaube, die Schüler*innen heutzutage haben genauso wenige prominente Vorbilder wie ich und wenn, dann eher im Deutschrap und auf Instagram. Ansonsten wusste ich damals auch einfach nicht, welche Jobs es gibt. Die Träume waren begrenzt. Also das Gefühl, dass ich alles erreichen kann – das habe ich nicht gekannt.
Ich denke, ich spreche im Namen vieler Leser*innen, wenn ich sage, dass mich dein Buch sehr berührt hat und ich an einigen Stellen ein paar Tränen verdrücken musste. Was sind die für dich schönsten Reaktionen auf dein Buch?
Das schönste Feedback ist, wenn Personen, die eine ähnliche Biografie wie ich haben, beschreiben, es sei das erste Mal, dass sie sich in einem Buch wiedererkannt haben. Für Menschen ohne Migrationsbiografie ist sowas selbstverständlich. In jedem Buch könnten die Protagonisten auch sie selbst sein. Wenn wir ein Buch lesen, stellen wir uns die Hauptperson ja auch vor und die ist automatisch weiß und heißt „Anna“ oder wie auch immer. Das kennen Menschen mit Migrationsgeschichte nicht. Gleichzeitig ist es aber auch extrem traurig, wenn sie mir sagen: „Eigentlich habe ich die gleiche Geschichte“. Es bedeutet, dass weiterhin so viele Menschen in Österreich Diskriminierung erfahren und doch wird nichts verändert.
Du bist ja jetzt seit deinem Buchrelease immer wieder in prominenten Medienformaten zu sehen. In Diskussionsrunden bist du dabei häufig die einzige Migrantin. Wie geht es dir damit?
Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nun die Pressesprecherin aller Migrant*innen und das bin ich ja nicht. Ich weiß, ich trage da eine große Verantwortung, und meine Worte werden von allen Seiten anders gewichtet. Also die, für die ich sprechen soll, schauen auch immer kritisch darauf, was ich sage. Und die, die quasi gegen Migrant*innen sind, können sich noch mehr auf mich einschießen, weil ich alleine bin. Manchmal sage ich Angebote ab und empfehle stattdessen andere Kolleg*innen, die nicht weiß sind. Häufig sehe ich dann aber, dass sie trotzdem nicht angefragt werden. Ich versuche mir daher im Journalismus selbst eine Bühne zu schaffen, wo ich alle Menschen raufholen kann, die unterrepräsentiert sind. Und ich glaube, das ist der Schlüssel. Wenn die Leute im Journalismus selbst Migrationshintergrund haben, nicht weiß sind, dann wird nicht immer nur eine Quotenmigrantin anwesend sein, sondern Diversität wird sich von selbst ergeben. Ungezwungen.
Du hast ja in deiner bisherigen Karriere gezeigt, dass du ein ziemliches Allroundtalent bist. Könntest du dir zukünftig vorstellen, auch in die Politik zu gehen?
Unter den Bedingungen wie Politik jetzt funktioniert, ist das ausgeschlossen. Für mich wäre das kein Job, sondern eine Berufung. Ich will etwas ändern in der Bildungsungleichheit und als Politikerin musst du kalkuliert denken, mit Koalitionspartnern abgleichen und dich in der Partei Widerständen aussetzen. Auch mit den besten Absichten lässt sich Bildungsgleichheit alleine nicht durchsetzen und damit musst du leben. Aber ich könnte nicht damit leben, dass am Ende Kinder und Jugendliche in der Bildung nicht bekommen, was sie brauchen, weil sich eine politische Mehrheit nicht einigen kann.
Welche Auswirkungen zeigen Covid-19 und die aktuellen bundesweiten Schulschließungen auf die Situation der Kinder und Jugendlichen?
Wir sehen, dass die soziale Schere weiter auseinander geht, aber das war für mich keine Überraschung. Ich wusste vorher schon, Betroffene wussten vorher schon, dass viele Kinder daheim keinen Laptop oder Schreibtisch haben, kein Internet und Eltern, die einem helfen können. Ich habe das als Normalzustand erachtet, die Schule aber erachtet etwas anderes als Normalzustand. Nur wenn man das mitbringt, kann Bildung gelingen. Jeder, der all dies nicht zuhause hat, wird irgendwann aussortiert, schafft es irgendwann nicht mehr. Ich glaube, Corona hat ganz gut gezeigt, dass viele Kinder einfach nicht die Voraussetzungen mitbringen, und dass Schule das nicht ausgleicht.
Was könnte hier von der Bundesregierung anders gemacht werden?
Es bräuchte viel mehr Sozialarbeiter*innen, die in Kontakt mit dem Elternhaus stehen und als Bindeglied zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen fungieren. Und das Bildungssystem müsste erkennen: „Wir wissen, Bildung wird vererbt, also müssen wir diese Spirale durchbrechen und eine Schule bereitstellen, die das ausgleicht, was daheim fehlt“. Das wäre eine Ganztagsschule, eine qualitativ hochwertige, die ebenfalls kulturelles Kapital – also Sachen wie Theaterworkshops, Musik, Sport, Yoga, Meditation – vermittelt und sozioökonomisch schwächeren Kindern zugänglich macht. Dazu müsste auch die Lehrer*innenausbildung reformiert werden, denn die geht momentan an der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen, und daran was im Klassenzimmer gebraucht wird, komplett vorbei.
Auch im vorschulischen Bereich müsste man etwas ändern. Einen kleineren Betreuungsschlüssel, damit Kindergartenpädagog*innen auch mehr Zeit haben, um mit den Kindern zu sprechen und auf ihre Deutschkenntnisse einzugehen. Und ihr Job müsste besser bezahlt werden, damit auch mehr Leute diesen ergreifen.
Denkst du, dass durch die Covid-19 Pandemie und die sozialen Ungleichheiten, die sie sichtbar gemacht hat, eine nachhaltige Reform im Bildungssystem angestoßen werden könnte?
Das wäre wünschenswert, aber ich fürchte nicht. Bildungsexpert*innen sagen seit Jahrzehnten, dass es eine Reform bräuchte, also die Politik weiß das schon. Aber ich glaube, an der politischen Starrheit und Struktur hat sich durch Covid nichts verändert. Man hat gesehen, dass die Schüler*innen für das Distance Learning Laptops benötigen. Doch diese Laptops sind bei vielen Schüler*innen heute noch nicht angekommen. Und dabei wäre das eine Kleinigkeit in einem der teuersten Bildungssysteme eines der reichsten Länder der Welt. Also wenn das schon nicht klappt, dann werden solche großen von mir angesprochenen Umwälzungen auch nicht passieren, egal unter welchem Bildungsminister.
In der letzten Woche hat Bundeskanzler Sebastian Kurz in mehreren Medien erwähnt, dass die hohen Zahlen der Coronainfektionen de facto auf Migrant*innen zurückzuführen sind. Welchen Eindruck hinterlassen diese Aussagen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationsbiografie?
Die haben sich eigentlich auch schon gewöhnt daran, dass sie die Sündenböcke sind. Und die sagen auch, sie kennen ja nur Krise. Klimakrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise und irgendwie sind immer die anderen schuld. Nach dem Terroranschlag in Wien sind die Zahlen antimuslimischer Angriffe stark gestiegen. Sie sind es gewohnt, als Migrant*innen dafür herhalten zu müssen. Nichtsdestotrotz ist es natürlich verletzend und eines Bundeskanzlers auch nicht würdig, dessen Aufgabe es ist, zu einen und nicht zu spalten. Eine solche Aussage grenzt schon an Diskriminierung.
Auch für Student*innen ist die Covid-19 Pandemie mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Hinzu kommt, dass viele Student*innen ihren Job verloren haben und sich damit auch finanzielle Sorgen verschärft haben. Was ist deine Meinung zur angekündigten Novelle des Universitätsgesetzes hinsichtlich einer bereits jetzt bestehenden “gläsernen Decke” im akademischen System?
Ja, da merkt man wieder, dass die Gesetze von Menschen gemacht werden, die nicht von Diskriminierungserfahrungen betroffen sind. 24 ECTs in zwei Jahren klingt natürlich erstmal nicht viel, ich habe das ja auch geschafft. Aber nur, weil es sich bei mir ausging, kann man nicht voraussetzen, dass es sich bei anderen ausgeht. Statistik Austria hat kürzlich veröffentlicht, dass nur 7 Prozent aller Arbeiterkinder einen Masterabschluss machen. Diese Novelle macht etwas im Kopf der Menschen. Sie schafft eine zusätzliche Hürde für Arbeiterkinder, ein Studium aufzunehmen, gerade wenn sie vielleicht zweifeln, ob sie studieren sollen und es sich nicht zutrauen. Mir erschließt sich der Grund für diese Novelle nicht und wenn es einen gibt, dann wurde er nicht kommuniziert. Aber ich kenne die Zahlen, wie wenige Arbeiterkinder ein Studium abschließen. Es sollte vielmehr eine Novelle geben, um zu verändern, dass die soziale Schere an den Unis immer weiter auseinandergeht. Weil die, die das Geld haben, alles zu studieren, die das Studium von ihren Eltern kennen, werden davon nicht abgeschreckt. Aber studiere mal, wenn du nicht so gut Deutsch kannst, studiere mal, wenn du nicht die Eltern im Rücken und nicht das Selbstbewusstsein hast. Dann wirst du merken – 24 ECTS – alleine der Druck, erhöht die Abbruchquote bei diesen Menschen.
In deinem Buch schreibst du „Rassismus lässt sich nicht durch gute Deutschkenntnisse und Erfolg bekämpfen. Das Einzige, das gegen Rassismus hilft, ist der Kampf gegen Rassismus.“ Wie kann dieser Kampf von jedem*jeder Einzelnen geführt werden?
Was glaube ich, für alle gilt, ist, dass man ein „Ally“ sein sollte, ein Verbündeter sozusagen. Wenn man merkt, dass jemand diskriminiert wird, egal in welchem Kontext, nicht zu warten, bis sich die Person selbst verteidigt. Denn das ist oft extrem schmerzhaft, und es braucht gewisse Privilegien, um gegen Diskriminierung aufzustehen. Egal ob es jetzt die Lehrerin, der Chef oder der Nachbar ist, der etwas Blödes sagt. Den Mund aufzumachen und Zivilcourage zu zeigen, das ist das Mindeste, das man für Betroffene tun kann. Ansonsten kommt es auf den Kontext an, wo du arbeitest, wo du dich bewegst. Je nachdem darauf schauen – benutze ich ausschließende Sprache? Oder wie kommt es, dass in meinem Job keine Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten? Oder als Elternteil – was lese ich mit meinen Kindern? Sind das Bücher, wo auch Schwarze Menschen außerhalb eines Integrationskontextes vorkommen? Bücher, die von jemanden geschrieben wurden, der nicht Anna oder Paul heißt? Also es sind oft einfach die kleinen Dinge im Alltag. Welche Unternehmen unterstütze ich, wo kaufe ich ein, wem folge ich auf Social Media usw.
Was würdest du einer Person entgegnen, die meint, dass der Rassismus im Bildungssystem nicht so schlimm sein kann, schließlich gibt es ja Personen wie dich, die es dennoch geschafft haben?
Einfach mal die Studien zeigen, gegen Zahlen kann niemand etwas sagen. Wenn wir uns anschauen, wie wenige Menschen mit meiner Biografie einen höheren Abschluss erreichen, oder alleine die Wahl haben, zu entscheiden, was sie machen wollen. Als ich in der ZIB2 gesagt habe, dass es ein Wunder ist, wenn Menschen mit meiner Biografie den Aufstieg schaffen, wurde mir von vielen Seiten nachgesagt, ich sei zu emotional. Wie lächerlich, von „Wunder“ zu reden, wenn es doch so viele gibt. Nur was bedeutet viele? Wenn man die an zwei Händen abzählen kann, dann ist das schon einmal ein Zeichen, dass es noch immer nicht genug sind. Gut, man kann Menschen wie mir gerne sagen: „Du hast es geschafft, schau, es ist nicht so schwer“. Aber im Umkehrschluss heißt das etwa, alle, die es nicht geschafft haben, sind einfach zu doof? Ich glaube, daran sollte auch der Letzte merken, dass es an einem ausschließenden System liegt. Nicht nur in der Bildung, sondern auch gesellschaftlich.
Welchen Ratschlag kannst du einer jungen Person mit auf den Weg geben, welche das Gefühl hat, im Schulsystem keinen Platz zu finden?
Also zunächst einmal, dass es mir auch so ging. Dass sie sich nicht nur einbilden, keinen Platz im Schulsystem zu haben. Das ist auch so. Ich will trotzdem, dass sie wissen, dass sie es schaffen können. Es gibt zumindest eine Person in ihrem Umfeld, die an sie glaubt und der müssen sie vertrauen. Und, dass sie Deutsch zu ihrer eigenen Sprache machen. Sie müssen sie nicht nachahmen, damit sie integriert sind, sondern sie können sie für sich nutzen, um auf die Missstände hinzuweisen, die sie erleben. Um zu sagen, was falsch läuft, was verändert werden soll. Deutsch ist nicht nur die Sprache, in der sie ausgeschlossen oder beleidigt werden, sondern es ist auch die Sprache, in der sie all diese Ungerechtigkeit artikulieren können.