Im vergangenen Herbst und Winter konnte wohl kaum jemand das Internet nutzen, ohne mit dem „OK Boomer“-Meme konfrontiert zu werden: Mit dieser abkanzelnden Wortmeldung, wie sie in dieser Zeit in Image Macros, Tweets oder Ähnlichem omnipräsent war, wurde häufig auf altmodisch oder rückständig anmutende Aussagen reagiert.
Als respektlose Diffamierung der sogenannten „Baby Boomer“-Generation (geboren ca. zwischen 1945 und 1969) wurde besagtes Meme also lediglich bisweilen missverstanden; tatsächlich geht es hier um Aussagen statt Geburtsjahre, wodurch Sprechende und Angesprochene sehr wohl auch gleichaltrig sein können. Typische „Boomer“ im Meme-Sinne (Nur in diesem Sinne soll der Begriff im Folgenden genutzt werden – fühlt euch also bitte nicht angesprochen, liebe Leute in euren 50ern, 60ern und 70ern sowie Metall-Stiere aus Mega Man X, ihr seid awesome!) definieren sich also nicht über ihr Alter, sondern etwa darüber, dass sie sich trefflich über Witze amüsieren können, deren Pointen im Wesentlichen aus „Mein(e) Frau / Mann nervt mich so, haha!“ bzw. „Die Jugend von heute hat es so leicht und ist trotzdem so empfindlich, hihi!“ bestehen (siehe auch „Boomerhumour“ auf Reddit). Oder (um zum eigentlichen Thema zu kommen) darüber, dass sie Videospiele pauschal als Kinderkram, brutalen Schund oder beides verurteilen…
Gerade Massenmedien im Boulevard-Bereich sind seit jeher oft sehr ergiebig für Tiraden der letztgenannten Art, aber den wohl geschmacklosesten Artikel dieser Preisklasse durfte ich erst unlängst lesen: „Teenies killten nach Spiele-Sessions“ (Autor(inn)enkürzel „kor“) auf Seite 12 der „Österreich“ -Tageszeitung vom 10. Februar 2020.
Aus dem Kontext gerissen würden diverse Zitationen aus jenem wirren Einseiter ja durchaus zum Grinsen anregen: Etwa, wenn das von PEGI und USK ab 7 bzw. 6 Jahren freigegebene Minecraft als „scheinbar harmloses Bau- und Stapelspiel, wo man aber auch Monster töten kann bzw. von ihnen getötet wird“ beschrieben wird. Oder wenn betont wird, dass es im blutlosen wie bonbonbunten Ballerspiel Fortnite (frei ab 12), das eher für alberne Tanzeinlagen als Brutalo-Gemetzel bekannt ist, darum ginge, „in einer virtuellen Welt so lange wie möglich zu überleben und so viele Gegner zu töten wie möglich“. Oder wenn einfach nur ominös und ohne weitere Erklärung von „One Piece auf der Playstation“ die Rede ist (Jene PlayStation, für die seit fast 15 Jahren kein Spiel mehr erschienen ist? Und wer ein echter Boomer ist, schreibt natürlich fälschlich „Playstation“, weil das ja so, wie „Gameboy“, im Duden steht), als ob die Abenteuer eines clownesken Anime-Teenagers mit Strohhut und seiner skurrilen Piratenbande das Gaming-Äquivalent zu Die 120 Tage von Sodom wären.
Wenn der Kontext allerdings wie hier der augenscheinliche Versuch ist, zwei reale, bis auf das junge Alter des jeweiligen Mörders voneinander gänzlich unabhängige Kriminalfälle dadurch zu erklären, dass beide jugendlichen Täter…Videospiele konsumiert haben, bleibt einem ganz schnell das Lachen im Hals stecken: Weniger wegen der (frechen, aber leider allzu gewohnten) Dämonisierung der Gaming-Gemeinde an sich, sondern besonders aufgrund dieser menschenverachtenden Trivialisierung von furchtbaren Tragödien und der unverhohlenen Nutzung derselben als sensationsträchtige Schlagzeile – kein Wunder, dass der Zeitungstext auch von halbherzig bis gar nicht verpixelten Abbildungen der Täter und Opfer eingerahmt wurde. Die einzige Pointe, die mir an dieser Stelle einfällt: Wisst ihr, in welchem Spiel es ebenfalls gilt, „so lange wie möglich zu überleben und so viele Gegner zu töten wie möglich“ und in dem man nicht nur Monster, sondern sogar Menschen und Tiere „töten kann bzw. von ihnen getötet wird“? In diesem:
Denn was ich annehme, was so manche gegen Videospiele hetzende Boomer wie die Verantwortlichen des erwähnten Artikels nicht verstehen (wollen): Videospiele…nein, eigentlich Spiele aller Art, ob digital oder nicht, verfügen über eine narrative und gameplaytechnische Komponente zugleich! Manchmal ist das Storytelling nur im Hintergrund oder symbolhaft vorhanden (Das gerade genannte Schach: Zwei Armeen kämpfen gegeneinander. Verstecken spielen: Ich will von den anderen nicht gefunden werden. Tetris: Blöcke fallen vom Himmel) und das Gameplay steht klar im Vordergrund. Manchmal ist es umgekehrt (etwa bei „Visual Novels“ mit komplexen Charakterzeichnungen, aber wenig Interaktion), manchmal sind beide Komponenten mehr oder minder gleichwertig. In jedem Fall müssen sie für einen ausreichenden Eindruck beide betrachtet werden: Wer nur einen flüchtigen Blick auf ein Videospiel als Gesamtpaket wirft und es gleich nach dem ersten Erspähen von virtueller Gewalt verteufelt, ohne Dualität und Kontext zu betrachten, ist, Verzeihung, ein Boomer.
Wer dagegen näher hinschaut, findet vielleicht heraus, dass manch ein Spiel mehr Text, Handlung und Spannung als sein Lieblingsbuch besitzt (das er der ach so lesefaulen Jugend von heute ständig andrehen will), auch wenn ihn das Gameplay vielleicht nicht überzeugt. Oder dass er bei einem anderen das grundsätzliche Spielprinzip fesselnd und spaßig findet, aber von der Brutalität der Präsentation abgeschreckt wird – alles absolut legitim! Aber für fast jedes Spiel – ob auf dem Bildschirm, auf dem Tisch oder auf dem Sportplatz – ganz grundlegende konfliktbasierte Elemente, wie „gegnerische Seite bekämpfen“ (siehe Fußball) oder „als Letzter übrig bleiben“ (etwa Völkerball), plump nur in Videospielen zu erkennen und als per se gewaltverherrlichend zu klassifizieren, ist absurd. Und da es bei der Entwicklung von Videospielen aufgrund des virtuellen Raums (anders als bei realweltlichen Brett- und Sportspielen, die sich etwa an irdische Physik und Sicherheitsbestimmungen halten müssen) den Teams völlig freigestellt ist, ob das „Drumherum“ um ihren Gameplay-Kern nun düster oder lustig, realistisch oder comichaft, gewalttätig oder harmlos daherkommt, existiert hier auch eine enorme Bandbreite: Wer beispielsweise an kooperativen Team-Shootern prinzipiell Gefallen findet, aber keine Gewalt sehen möchte, kann sich einfach die ebenso famose wie familientaugliche Tintenfisch-Farbschlacht Splatoon zulegen!
Vielen Dank fürs Lesen und hoffentlich bis zum nächsten Mal sagen Kolumnen-Katz und Old!
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Herausgeber des "Generation N"-Printmagazins und generation-n.at-Videoredakteur, Germanist, Informatiker, Videospielfreak seit Kindergartentagen, auch Kino, Comics und dem Basteln von seltsamen Kurzfilmen nicht abgeneigt sowie stolzer Absolvent eines Wochenend-Intensivkurses der Clownerie.