Wer interessiert sich eigentlich noch für die Oscars? Ein paar Kulturjournalist*innen, offensichtlich. Und ihre Leser*innen, hoffentlich. Abgesehen davon scheint sich niemand mehr so wirklich für die größte Awardshow der Welt zu begeistern. Noch vor zwanzig Jahren war die Oscar-Verleihung das Fernsehereignis schlechthin: Bis zu 43,5 Millionen Menschen sollen allein in den USA vor ihrem Fernseher darauf gewartet haben, wer die beste Schauspielerin ist, was der beste Film. Heute liest man auf Twitter: „The Oscars are dead!“ Die Einschaltquote lag zuletzt nur mehr bei rund 15 Millionen. Wenige sind das zwar weiterhin nicht, aber es ist dennoch ein massiver Einbruch. Woran liegt das?
Das Ende des Kanons
Gerne wird die Schuld an der schwindenden Beliebtheit der Oscars jener Institution gegeben, die die Oscars jährlich vergibt: der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences (kurz: „Die Academy“). Doch die sinkende Einschaltquote ist Teil eines größeren Trends: Generell verliert das Fernsehen seit Jahren an Zuschauer*innen. Zudem werden Filme heute immer seltener im Kino angesehen; die meisten Menschen nutzen dafür Streaming-Plattformen. Auch die Diskussion und Bewertung von Filmen findet vor allem im Internet statt. Der Filmindustrie geht es damit gleich wie allen anderen Kultursparten: „Der Kanon“ in Kunst, Literatur, Musik und Film verliert zunehmend an Bedeutung. Nicht mehr „die Expert*innen“ und einzelne Stars entscheiden, welchen Film man gesehen haben muss, sondern Klicks, Algorithmen und die Meinung der Masse.
Die Oscars zwischen Kunst, Pop & Politik
Neben diesen gesellschaftlichen Umbrüchen haben die Oscars aber vor allem ein Problem: Niemand weiß mehr so genau, wofür sie eigentlich stehen. Was wird mit einem Oscar ausgezeichnet? Ist es Qualität, Beliebtheit oder doch die moralisch wertvollste Botschaft?
Diese Debatte wird seit Jahren geführt, vor allem, wenn es um die Oscar-Hauptkategorien geht (Bester Film, Schauspiel, Regie, Drehbuch). Gerne wird der Academy vorgeworfen, sie ignoriere den Erfolg an den Kinokassen. Dem wollte die Jury dieses Jahr entgegenwirken, indem sie die zwei meistgesehenen Filme des Jahres für die Auszeichnung zum „besten Film“ nominierte: Avatar: The Way of Water (James Cameron) und Top Gun: Maverick (Joseph Kosinski). Gewonnen hat schließlich Everything Everywhere All at Once (EEAAO) (Daniel Kwan, Daniel Scheinert) – ein Independent–Film, dessen Einspielergebnis nicht mit Avatar und Top Gun vergleichbar ist, der jedoch Kritiker*innen und Publikum gleichermaßen begeisterte.
Seit Mitte der 2010er-Jahre wird die Academy aber vor allem mit einer Kritik konfrontiert: Immer noch zeichnet sie die Leistungen von Männern und weißen Personen überdurchschnittlich oft aus. Im Zuge von #metoo und #oscarssowhite wurde mehr Diversität bei der Preisvergabe und mehr Bewusstsein für gesellschaftspolitische Themen gefordert. Auch dieses Jahr wurde kritisiert, dass ausschließlich Männer in der Kategorie Beste Regie nominiert wurden– trotz vieler ausgezeichneter Alternativen. Auch befanden sich nur vereinzelt People of Color unter den Nominierten für das beste Schauspiel. Gewonnen haben schließlich dennoch zwei von ihnen: Michelle Yeoh (EEAAO) wurde beste Hauptdarstellerin, Ke Huy Quan (EEAAO) bester Nebendarsteller.
Doch selbst diese vorsichtigen Gehversuche hin zu einer gerechteren Vergabe der Oscars werden immer wieder als „politische Vereinnahmung“ und „Wokeness“ angeprangert. Damit befindet sich die Academy mitten im Kreuzfeuer der aktuellen Debatte um Identitätspolitik. Nach wie vor fällt es ihr sichtlich schwer, sich darin zu positionieren.
Dabei sind politische Statements bei den Oscars kein neues Phänomen. Schon seit ihren Anfängen dienen Award Shows als Bühne für gesellschaftspolitische Debatten und werden genutzt, um Aufmerksamkeit auf wichtige Themen zu lenken. Das liegt nicht zuletzt an der Natur des Films: Filme sind nicht nur Unterhaltung, sondern beziehen mitunter auch Stellung zum Zeitgeschehen. Damit sind sie oft genug eine politische Kunstform. Eindeutig Stellung bezog die Jury dieses Jahr mit gleich vier Oscars für das Kriegsdrama Im Westen nichts Neues (Edward Berger). Angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation, überrascht es nicht, dass der Anti-Kriegsfilm dermaßen hoch ausgezeichnet wurde.
Außergewöhnliche Leistungen?
Doch wo bleibt bei all diesen Streitpunkten die Qualität? Eine Oscar-Auszeichnung gilt noch immer als Synonym für Qualität, Talent und Leistung. Betrachtet man die Gewinner*innen der letzten Jahrzehnte, wird aber klar: Die Academy entscheidet sich meist für den sicheren Weg. Es gewinnen eher Filme, die wenig kontrovers sind, mit einer Botschaft, der sich die meisten Menschen anschließen können. Künstlerisch innovative, politisch aufgeladene Filme müssen sich mit einer Nominierung begnügen oder schaffen es erst gar nicht so weit. So hat etwa der Indie-Film Aftersun (Charlotte Wells) weder eine Nominierung für den Besten Film noch die Beste Regie erhalten, obwohl er als Gesamtkunstwerk gefeiert wird.
Die Zahlen stimmen
Der Einfluss der Oscars auf die Filmindustrie bleibt trotz all dem bestehen. Während sich Publikum und Kritiker*innen darum streiten, was ein Oscar nun genau bedeutet, wirkt sich eine Oscar-Nominierung weiterhin direkt auf die Karriere der Künstler*innen aus. Zuvor unbekannte Schauspieler*innen steigen nach einer Oscar-Nominierung oder -Auszeichnung oft zu internationalem Erfolg auf. Die Oscars sind damit nicht nur ein Weg, Leistung und Talent auszuzeichnen, sondern bestimmte Künstler*innen in der Industrie zu fördern. Wer nominiert und ausgezeichnet wird, ist daher ganz und gar nicht egal. Auch locken oscarnominierte und -ausgezeichnete Filme immer noch Menschen in die Kinos. Vor allem für kleine Kinos, die seit Jahren ums Überleben kämpfen, ist das eine wichtige Unterstützung. Statt ihrem alten Ruhm nachzutrauern, sollte die Academy sich wieder auf ihren ursprünglichen Vorsatz konzentrieren: Das Fördern junger Talente und des Kinos an sich.
Dieses Jahr hat die Academy überraschend klar entschieden: Everything Everywhere All at Once und Im Westen nichts Neues räumen zusammen fast die Hälfte aller Oscars ab. Die beiden Filme schaffen es, Qualität, Publikumsgeschmack und politisches Statement zu vereinen. Damit nehmen sie der Jury die schwere Entscheidung zwischen Kunst, Pop und Politik ab. Ob dieses klare Ergebnis hauptsächlich dem Können der jeweiligen Film-Teams geschuldet ist, oder doch eine Trendwende in der Haltung der Academy markiert, werden die nächsten Jahre zeigen.
Titelbild: MirkoFabian/unsplash
Politikwissenschaft & Popkultur