Raphaela Edelbauer las 2018 beim Ingeborg-Bachmann-Preis und gewann den Publikumspreis. Nun liegt ihr Roman Das flüssige Land bei Klett-Cotta vor und war auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Es ist ein sprachgewaltiges und mutiges Romandebüt.
Eine junge Physikerin verliert ihre Eltern bei einem Unfall und sucht deren Heimatort, der aus jedem Verzeichnis und jeder Landkarte verschwunden scheint. Als sie doch in Groß-Einland ankommt, eröffnet sich ihr dort eine märchenhafte, anachronistische und unheimliche Parallelwelt. Unter der Gemeinde, die von einer Gräfin absolutistisch regiert wird, klafft ein riesiges Loch, das die Gemeinde durch Erosionen langsam verschlingt. Doch nicht nur Häuser, Straßen und Gärten werden durch das sich bewegende Erdreich verschluckt, auch alle dunklen Geheimnisse der Gemeinde verschwinden im Loch.
Das Motiv der Verdrängung wird umgedeutet in ein Motiv des Verschwindens. Die Protagonistin soll ein Füllmittel entwickeln, das dem Absinken der Gemeinde ein Ende bereitet. Dabei drängt sich auf, dass es auch „den Zweck hatte, dieses Ungeklärte in einen soliden, nie mehr aufzubrechenden Mantel der Erstarrung zu führen.“ Gleichzeitig brechen Familienhäuser entzwei, über Plätze und Straßen klaffen Risse, überall droht potenzielle Lebensgefahr. Die Bewohner versuchen diese „Unpässlichkeit“ zu verstecken, sodass sich langsam eine zweite „Schicht aus Verspachtelungen, Ersetzungen und verhängten Schandflecken“ über das Stadtbild legt.
Märchenhaftes Erzählen
Mit großem Gespür für Figuren und klugen, genauen Beobachtungen zwischenmenschlichen Verhaltens, begibt sich Edelbauer auf für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ungewöhnliches Terrain. Erfrischend mutig erkundet sie die Möglichkeiten der Fantastik. Der Text kreist nicht, wie so manch anderer Debütroman, um sich selbst, sondern entwickelt irgendwo zwischen Krimi, Märchen und Gesellschaftsroman Handlungsstränge, die zu einer großen, konsistenten Erzählung verknüpft werden.
Dass die Sprachspielereien stellenweise überbordend sind und der Text mitunter mehr Schlichtheit vertragen würde, verzeiht man schnell. Was an Präzision fehlt, wird durch Spannung wettgemacht. Einzelne schiefe Metaphern fallen nicht ins Gewicht, wenn sie Szenen wie dieser gegenübergestellt werden:
Als ich mich hinunterbeugte, um zu sehen, was diese Wellenbewegung hervorrief, erkannte ich, dass die ganze Wiese von Würmern wimmelte: Würmer, die sich aus der luftleeren Erde gerettet hatten und sich verloren zwischen Himmel und Boden wanden.
Die Unheimlichkeit des Undurchschaubaren
Der Roman entwickelt einen kafkaesken Sog, der einen weit in den Grusel der Undurchschaubarkeit hineinzieht. Das Dystopische versteckt sich nicht nur in der verqueren Herrschaftsstruktur des Dorfes und der Bedrohlichkeit der missbräuchlich umgestalteten Natur, auch in der Unzuverlässigkeit menschlicher Erinnerung und Wahrnehmung liegt etwas Unheilvolles: Alles wird „durch die Murenabgänge der Gedächtnisse“ verschleiert. Schicht für Schicht legt Raphaela Edelbauer sowohl die nationalsozialistische Vergangenheit, als auch die kleinen Fehlbarkeiten und Geheimnisse einer kleinen, österreichischen Gemeinde frei. Das Große wird auf intelligente Art mit dem Kleinen, dem Banalen verwoben. Die dunkle Geschichte bleibt trotzdem vernebelt, totgeschwiegen und undurchschaubar. So ist der Zynismus, mit dem der Roman endet, auch eine Parabel auf österreichische Verhältnisse: „Nichts, was im Unklaren verblieben wäre.“