Alle drei Jahre wieder – kommt das Prosanova. Das größte Festival für junge Literatur im deutschsprachigen Raum verwandelt die deutsche Domstadt Hildesheim regelmäßig in einen schillernden Treffpunkt der Gegenwartsliteratur mit Lesungen, Gesprächen, Partys. So auch dieses Jahr – aber dann kam Corona.
Titelbild © Salma Jaber. Künstlerische Leitung v.l.n.r.: Carla Hegnon, Mirjam Wittig, Simoné Lechner, Elske Beckmann, Judith Rinklebe, Selma Matter
Das Prosanova Festival erfindet sich jedes Jahr neu, entdeckt leere Räume in der Stadt, lädt etablierte und noch unbekannte literarische Stimmen ein. Organisiert wird es von der Redaktion der Literaturzeitschrift BELLA triste, aber dieses Jahr steht die sechsköpfige Festivalleitung vor einer ganz besonderen Herausforderung: Literatur online erfahr- und nahbar machen – in einer Welt, die momentan sowieso hauptsächlich online stattfindet, inmitten von einem überbordenden Angebot an digitalen Kulturveranstaltungen. Das Prosanova lebt von den Begegnungen zwischen Literaturbegeisterten, von hybriden Leseräumen, von weintrunkenen Diskussionen. Es ist bekannt für seine Experimentierfreudigkeit, die dieses Jahr noch eine Ebene weitergehen muss.
Wer teilnehmen möchte, kann sich ein Ticket kaufen und dafür bezahlen, was angemessen erscheint, für jeden Lesungstag wird dann ein Code zugesendet. Die einzelnen Veranstaltungen können außerdem auch ein Wochenende nach dem Prosanova noch einmal abgerufen werden. Es gibt ein offizielles Festivalkit und verschiedene digitale Räume, die eine Kommunikation untereinander ermöglichen: In Gather Town können sich bis zu 50 Personen gleichzeitig aufhalten und miteinander reden, eine Telegram-Gruppe hält alle Beigetretenen auf dem Laufenden, Fan Fiction, eine Awareness- und Safer Space Hotline und sogar einen Büchertisch gibt es.
Eine literarische Reise
Donnerstag, 17 Uhr, Laptop geöffnet, Code eingegeben, Eröffnung beginnt: Da sind die sechs Frauen, die das Festival hauptsächlich organisiert haben, auf dem Bildschirm. Sie sprechen über Walkie-Talkies, radeln, skaten, laufen durch Hildesheim, machen die Stadt bereit für: Online-Lesungen.
Wie bei einem Video-Call begrüßen sie danach die Zuschauer*innen, sagen Dankesworte und sprechen aber auch Missstände im Betrieb an, der viel zu wenig divers ist und Nicht-Privilegierten kaum einen Raum bietet. Entsprechende Interventionen hätte es geben sollen, nun also online, von Reibung zur Glätte. Über 50 Formate sind angekündigt:
Klappt nochmal für einen Moment den Laptop zu, trinkt einen Schluck, lasst etwas Luft ins Zimmer. Die nächsten drei Tage werdet ihr diesen Ort nicht mehr verlassen. Wenn alle Fenster geputzt sind und Wegweiser wieder hängen, cruisen wir gemeinsam durch die Stadt Richtung Festivalgelände. Herzlich Willkommen. Wir werden gar nicht viel sagen. Kopfhörer rein, Bildschirmhelligkeit rauf, Augen zu Quadraten. Los geht’s!
Und ja, tatsächlich darf auch der sprichwörtliche Sektkorken zur Eröffnung nicht fehlen: Es wird geknallt, gegen einen Laptop, hurra, das Festival startet!
Lesungen und Geständnisse
Den Festivalauftakt bilden die Vorstellungsvideos und Lesungen der fünf Artists in Residence und direkt die ersten Worte von Nilufar G. Karkhiran Khozani sind so berührend, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, als mitten ins Festival abzutauchen, in ihrer Lesung mitten in den Iran zu reisen. „Glätte & Reibung“ ist das Motto des Festivals, Khozani spricht von der Reibung zwischen ihr und der Welt, zu der sie gehören will, dem Interessanten, das darin liegt.
Neben Lesungen gibt es an diesem Tag auch Workshops, Gespräche, Zwischentöne. Im Confession Room sprechen Helene Bukowski und Isabelle Lehn über schlecht oder gar nicht bezahlte Lesungen, wovon, ja wovon sollen Schriftsteller*innen eigentlich leben?
Weiter geht’s am Freitag. Direkt zu Anfang eine Verzögerung im Litradio. Auf Telegram laufen währenddessen Challenges – was ist der Lieblingssatz einer der Lesungen? Wer sich dazu angemeldet hat, kann an diesem Vormittag sogar an einem Buchbindeworkshop teilnehmen. Zeitgleich nimmt die Autorin Dana von Suffrin Zuschauende per Video mit zu einer Führung durch München: Per Google Streetview werden verschiedene Orte aufgesucht, die für sie wichtig sind oder mit ihrem Roman Otto zu tun haben, parallel dazu liest sie. Ein ähnliches Format gibt es am nächsten Tag mit Karosh Taha, durch Zaxo. Ralph Tharayil und Tanasgol Sabbagh lassen in my music is lost, I bite my tongue zwei Stimmen aus zwei Jahrtausenden, Sappho und Zahra, auf Lesbos aufeinandertreffen, bewegend.
Im Confession Room unterhalten sich Karen Köhler und Florian Kessler über einen Chat, wer zuschaut, kann mitlesen, inklusive Video- und Sprachnachrichten, es geht viel um rassistische Polizeigewalt und Feminismus, Buchempfehlungen, Corona. Bei der sogenannten Simultan-Literarisierungsmaschine kann die zuschauende Person Isabelle Lehn beim Schreiben über die Schulter schauen und gleichzeitig die Bilder sehen, die sie dazu bewegt haben, die Notizen, die nun verschriftlicht werden: ein Warten im Park, während der Freund in der Notaufnahme behandelt wird.
Tanz- und Märchenstunde
Auch an diesem Festivaltag werden Gespräche und Interviews, beispielsweise mit dem Filmkollektiv Jünglinge, geboten. Am Abend ist nach einer Pause die Hafenlesung dran: eine mehrsprachige Lesereihe aus Hamburg, die internationale Autor*innen einlädt und mit ihnen ins Gespräch kommt.
Nach Musik, dem Aufruf zur gemeinsam einsamen Tanzerei, wird in der Telegram-Gruppe abends noch eine Gute-Nacht-Geschichte, ein Märchen hochgeladen, damit auch alle gut in den Schlaf tanzen können: Die zertanzten Schuhe zum Beispiel.
Es sind also nicht bloß Mitschnitte von Lesungen, die das Team gesammelt und auf die Beine gestellt hat. Stattdessen wird gezeigt, wo Literatur überall greift, was sie alles kann, in welchen Räumen sie eine Wichtigkeit einnimmt. Dazu tragen unter anderem auch die vielen Live-Veranstaltungen bei, die teilweise das Publikum ganz aktiv mit einbinden: da gibt es eine Drama-Hotline oder gemeinschaftliches Flanieren: wer mitmacht, ist dazu aufgerufen, die heimische Couch zu verlassen, durch die eigene Stadt zu spazieren, gleichzeitig zuzuhören und zu fotografieren, mitzuerleben. Teilweise erinnert das an ein Spiel – Raphaela Edelbauer bietet sogar ein Pen-and-Paper-Spiel an. Mit Was bleibt wird den Texten verstorbener BIPoCs eine Bühne geschaffen.
Die eingeladenen Autor*innen sind jung und divers – und dass auf diese Diversität überhaupt hingewiesen werden muss, dass sie noch keine Normalität ist, bedauern die Veranstalterinnen im sehr reflektierten und ehrlichen Live-Abschlussgespräch am Sonntag.
Das Prosanova aber, das sie gemeinsam, unter diesen Bedingungen gestemmt und auf die Beine gestellt haben, ist ein wichtiger und wegweisender Beitrag. Hut ab!
Weitere Informationen
https://prosanova-festival.net
Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.