Rezension – „fluss, stromaufwärts“ im Werk X

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fluss, stromaufwärts ist eine Reflexion über das Leben, das im Moment gefangen ist. Wie der Lachs im Gegenstrom. „All is flux, nothing stays still, everything flows.“ Die Reise deines Lebens, im Fluss stromaufwärts, gegen den Strom, obwohl alles den Bach runtergeht.

Titelbild: Screenshot: Stream © WerkX: „fluss, stromaufwärts“

Das Stück eröffnet mit Brian Eno’s Ambient Music For Airports 1/1, ein Titel, der mich in der Unibib in Prüfungsphasen am Leben erhalten hat. In fluss, stromaufwärts von Alexandra Pâzgu bildet der Soundtrack für Lachs (Enrique Fiß), Tino (Sümeyra Yilmaz) und Effi (Lilly Prohaska), die alle irgendwie eine Person sind, eine Allegorie auf das tragische Mühsal des Lebens. Die Bühne wird zunächst von einer Leinwand halbiert, auf der Unterwasseraufnahmen von Lachsen zu sehen sind. Diese Fischart, deren gleichnamige Farbbezeichnung den Anzug von Lachs trägt, ist Metapher für das Stück. Genauso verschachtelt wie dieser Satz ist anfangs auch Pâzgus poetisch-philosophischer Text. Was machen Lachse? Sie schwimmen gegen den Strom und legen dabei hunderte von Kilometern zurück, um ihre Eier wieder dort abzulegen, wo sie aufgewachsen sind. Sehr traditionsbewusste Schwimmer, diese Fische. Wie wir, wenn wir jedes Jahr an Ostern nach Hause fahren, viel zu viele bunt gefärbte Eier gegeneinander schlagen und essen.

Tino schnallt sich an und auf der Leinwand erscheinen Flugzeugturbinen. Lachs fährt die Maschinen hoch, das Flugzeug hebt ab und verlässt Rumänien. Der Vorhang fällt (oder wird gefällt) und Effis rumänisches Wohnzimmer erscheint. Tinos 122-jährige Großmutter steht für eine alte Generation, die sich dem rumänischen Zeitgeist von heute nicht mehr anpassen kann und daher Zuflucht in der Vergangenheit sucht. Die Stimme des Gewissens (Lachs) zwingt Übersetzer Tino, sich mit seinen eigenen Wurzeln auseinanderzusetzen und hinterfragt dabei grundsätzliche Narrative, um die sich unser individuelles Weltbild dreht. Der Text verdichtet sich mehr und mehr, während Kleidungsstück für Kleidungsstück abgelegt wird, bis die Darsteller*innen zuletzt vom Nebel umhüllt, nackt von der Bühne gehen.

Feiere dein Fremdgehen und sei froh, dass du einen Grund hast jemanden zu vermissen.

Das post-repräsentative, autofiktionale Stück möchte beweisen, dass wir uns zwar ständig neu (er)finden müssen, um im System zu bestehen, gegen das wir eigentlich sind, aber doch der Geschichte treu bleiben. Jeder zweite Satz ist so schön, dass er als Zitat auf einen Flakturm gemalt werden könnte. Teilweise wird inflationär mit Hashtags jongliert. Konstruktionen wie „fake news, „dumpster diving“, oder „vintage Kapitalismus“ gehören zwar in eine Reflexion über das Leben im 21. Jahrhundert, wirken aber dennoch deplatziert. Nichtsdestotrotz ist der letzte Teil dieser poetisch-philosophischen Trilogie über das Leben in europäischen Städten ein Highlight im Covid-19 Stream.

Screenshot: Stream © WerkX: „fluss, stromaufwärts“
Screenshot: Stream © WerkX: „fluss, stromaufwärts“

Autorin Alexandra Pâzgu wurde 1985 in Sibiu, Rumänien geboren und lebt als freie Autorin und Dramaturgin in Wien. fluss, stromaufwärts wurde im Herbst 2019 am Schauspiel Leipzig uraufgeführt. Am 27. Juni fand die österreichische Erstaufführung zunächst als Stream-Premiere statt, in der Spielzeit 2021/22 wird das Stück am WERK X-Petersplatz gezeigt.


Inszenierung: Alexandru Weinberger-Bara
Autor*in: Alexandra Pâzgu
Szenographie: Petra Schnakenberg
Video: Marvin Kanas
Produktionsleitung: Felix Huber
Produktionshospitanz: Magdalena Sölva
Aufzeichnung Stream: Ronald Pfisterer (Schnitt, Ton)
Joe Albrecht, Ronald Pfisterer, Ola Queen (Kamera)

Link zum Stream (noch bis 30.06.2020)

Stv. Chefredaktion / Gesellschaft

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