100 Gedichte Lindemann Cover

Till Lindemann: 100 Gedichte – und eben nicht nur eines

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Rammstein-Sänger Till Lindemann legt bei KiWi einen neuen Lyrikband vor. Menschliche Abgründe, Gewalt und Tod treffen auf Humor, Verletzlichkeit und Liebe. Doch es wäre nicht Till Lindemann, gäbe es nicht auch einen Skandal. Vorgeworfen wird ihm die Romantisierung von Vergewaltigungen. Darin offenbart sich aber ein gefährliches und von Unwissenheit geprägtes Kunstverständnis.

Till Lindemanns Gedichte überschreiten Grenzen – unserer Moral, unserer Befindlichkeiten und unseres Anspruches an Ästhetik. Tabubruch, Übertreibung, Zuspitzung sind Elemente seiner Lyrik, aber auch seiner – viel eher bekannten – Songtexte. Und doch findet man in Lindemanns Lyrik weniger Martialisches, als man vermuten möchte. Die Gedichte offenbaren stellenweise eine unerwartete Leichtigkeit voller Witz, der an Poesie von Joachim Ringelnatz erinnert. Scheinbar banale Zweizeiler wie Tanzlokal:„Frauen stehen ihren Mann/Weil der nicht mehr stehen kann“, werden durch morbide Brutalität und grausliche Körperlichkeit gebrochen.

Dunkle Romantik

Lindemanns Lyrik besticht in erster Linie durch gegensätzliche Emotionen, das Hin und Her zwischen heimtückisch-unschuldigen Natur- und Tierbildern und roher, unverschleierter Gewalt und tiefer Traurigkeit, wie in „Die Armee der traurigen Menschen“, einem der besten Gedichte des Bandes, mit dem er auch an Traditionen der Schwarzen Romantik streift. Das Schön-Schaurige, das Schräge und das Obszöne dieser Lyrik wird auch durch die gelungenen Illustrationen von Matthias Matthies untermalt.

„[…] Es sind die Hässlichen die Fetten
Siecher lecken an Tabletten
Die Ritzer winken mit dem Messer
Zusammen traurigt es sich besser

Ein Bündnis blasser Elegie
Man singt in Moll, gelacht wird nie […]“
– aus „Die Armee der traurigen Menschen“

Unter die Haut

Wie von Rammstein gewohnt, wird der Leser gepackt, verstört und durchgeschüttelt. Die Sprache scheint dabei eher unbeteiligter und indifferenter Beobachter zu sein, eher notwendiges Mittel zur Darstellung, als schönfärberischer Selbstzweck. Im Vordergrund steht die Provokation, es geht um das Herauskitzeln eines moralisch empörten Aufschreis, aber es geht auch um den Schockeffekt als ästhetisches Mittel und die Grenzerfahrung, die Literatur nun einmal sein kann oder sogar sein muss. Kurz: Lindemanns Lyrik geht unter die Haut.

Poesie als Grenzerfahrung

Das mag nicht immer gefallen. Das mag gängige Qualitätsansprüche an Literatur im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen in Frage stellen. Das mag Abgründe aufzeigen und Moralvorstellungen erschüttern, es mag empören. Und das ist gut so. Denn eine der zentralen Aufgaben von Literatur ist es, Extreme zu erkunden, einen Schritt weiterzugehen, das Unmögliche zu denken und mit dem Anderen, heißt auch, dem Obszönen, Grauslichen und Widerlichen, zu experimentieren. Wäre das anders, wir müssten ausschließlich stinklangweilige Texte vom Wäschewaschen, Bürohocken und Muttermale-kontrollieren-lassen lesen. Das wäre freilich genauso legitim, aber eben auch fad.

Provokation oder Skandal?

Im „Skandalgedicht“ Wenn du schläfst wird jemand – es ist nicht klar, ob es sich tatsächlich um eine Frau handelt – mit K.O.-Tropfen betäubt und vergewaltigt. Die Empörungswellen in sozialen Medien, die gegen Lindemann und seinen Verlag wettern, stören sich an der angeblich verherrlichenden Darstellung („Es ist ein Segen“) dieser Gewalttat und der fehlenden Kontextualisierung und Distanzierung. Dabei wird vergessen, dass Kontext und Diskurs innerhalb eines vielstimmigen Romans durch Gegenrede möglich sind, in einem kurzen, subjektiv formulierten Gedicht aber nicht. Trotzdem sehen viele die Grenze des Sagbaren überschritten.

Erst Empörung, dann Kanon

Nicht jeder muss in Lobeshymnen zu Lindemanns Lyrik verfallen, Kritik ist immer angebracht und wichtig. Und so lange weder das Gedicht noch der Band wieder zurückgenommen oder zensiert werden, ist auch die Kunstfreiheit nicht in Gefahr. Zudem sind Rufe nach Zensur und Empörungswellen bei Skandaltexten kein neues Phänomen. Lindemann reiht sich hinter Autoren ein, die bewusst und erfolgreich provozierten, die die Grenzen des Anspruches ausgelotet haben und Literatur außerhalb eines moralischen Korsetts praktizierten: Marquis de Sade, Charles Baudelaire, Vladimir Nabokov, George Bataille. Die Liste derer, von den Zeitgenossen verschmäht und angeklagt und von heutigen Literaturwissenschaftsstudenten gefeiert und in tausenden Seminararbeiten besprochen, könnte man lange erweitern.

99 Gedichte plus 1

Dass man auf die Trennung zwischen Autor und lyrischem Ich überhaupt hinweisen muss, ist ärgerlich genug. Doch auch eine kommentierte Ausgabe würde das Problem nicht lösen. Die empörte Schnappatmung findet immer einen Weg. Alles weiter nicht so schlimm. Die Freiheit der Kunst muss man trotzdem immer verteidigen. Und auch wenn sich Lindemann wahrscheinlich ins Fäustchen lacht, weil die Provokation gelungen ist und er für seinen kleinen Lyrikband vor allem jetzt wirklich Aufmerksamkeit bekommt, ist es dennoch schade um die anderen 99 Gedichte. Die können nämlich, wenn man sich darauf einlässt, richtig gut sein.

100 Gedichte Lindemann Cover
(c) Kiepenheuer und Witsch

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