Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seiter

Über die Bewährung und die Hilfe – „Ich an meiner Seite“ von Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher

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Birgit Birnbacher kann schon einige Preise auf der Liste abhaken. Zuletzt gewann sie den Bachmannpreis 2019 und setzte damit die Erwartungen hoch. Ihr neuer Roman Ich an meiner Seite ist frisch im Zsolnay Verlag erschienen und hat sie erfüllt.

Der Kaffeeautomat in der Aula der Universität. Arthur fühlt sich fehl am Platz, er weiß nicht wie man sich benimmt vor so einer Lehrveranstaltung, so wie wir alle wahrscheinlich schon mal vor so einer Lehrveranstaltung gestanden haben und uns gefragt haben, wie man sich denn eigentlich jetzt benimmt. Und wenn man, bevor die Vorlesung überhaupt anfängt, schon die Fragen des Kaffeeautomaten nicht beantworten kann, kann man es dann nicht gleich sein lassen?

Der Automat blinkt. Er spricht zu ihm. Trink! Try me! So einfach ist das, denkt Arthur, und schon weiß der Mensch, wohin.

Arthur, 22 Jahre und Protagonist des Romans, ist eher so der stille Typ. Was er mit seinem Leben anfangen will, das weiß er noch nicht so richtig, aber die Auswahl erschlägt ihn auch nicht gerade, denn: Arthur hat gerade erst 26 Monate im Gefängnis verbracht. Sein Therapeut Börd hat auch schon mal bessere Tage gesehen und hält sich sowieso nicht lange mit den sogenannten Regeln auf. Er soll Arthur helfen, ihn für die Berufswelt fit zu machen, in der er keine Chance mehr hat. Oder anders: Resozialisierung.

Bischofshofen. Andalusien. Favoriten.

Arthur kommt aus einer Arbeitersiedlung. Seine Mutter versucht sich mit jedem Job über Wasser zu halten und findet sich dazu einen neuen Lebenspartner, der so seltsam verschroben ist wie der Rest der Charaktere. Arthur ist eigentlich der Normalste von allen. Dass der junge Mann eine unrosige Kindheit hatte, kann man sich fast denken. Was aber wirklich dahinter steckt, lässt nicht kalt. Der Roman krallt sich an seine Leser*innen.

Der Protagonist muss nach Andalusien ziehen, wo die Mutter und ihr Lebenspartner ein Sterbezentrum für diejenigen eröffnen, die in ihren letzten Tagen noch alles Vererbbare verprassen, um das Sterben wenigstens in der ersten Klasse zu erleben. Alles ist weiß, alles glänzt, alles ist surreal. Arthur verwickelt sich dort in eine seltsame Dreierbeziehung.

Wie der einzige Mensch fühlt sich Arthur, als er sich vollkommen allein seinen Weg durch diese Bonbonlandschaft bahnt, lächerlich gemacht von der Nachmittagssonne, die ihn anstrahlt, als wäre es längst altmodisch, aus Fleisch und Blut zu sein.

Ich und ich, allein

Wie kam es denn eigentlich dazu, dass der junge Mann so einer wird? Und überhaupt, was hat er verbrochen? Die Autorin hat das Konzept Spannungsaufbau nicht nur verstanden, sondern ein ganzes Buch daraus gebaut. Bis zum Schluss verliert die Geschichte nicht ihren Wert, obwohl man vom Klappentext, der sich eigentlich bloß auf die letzten Seiten bezieht, eine ganz andere erwarten würde.

Niemand drückt jemals einen Notfallknopf in einer Zelle mit Mehrfachbelegung. Weil eine Zelle mit Mehrfachbelegung immer drei gegen einen heißt, alles andere ergibt gruppendynamisch überhaupt keinen Sinn.

 Eine klare Romanempfehlung

Birnbachers Erzählstil ist direkt, ohne viel Drumherum und passt das ihrem Protagonisten wunderbar an. Sie trifft die Sätze auf den Punkt, es bleibt nicht mehr viel zu sagen. Hinzu kommen die verschiedenen Techniken, die die Autorin geschickt in den komplexen Handlungsaufbau einbettet. Der Roman braucht eine gewisse Zeit, bis er in Fahrt kommt und schlägt dann richtig zu.

Cover Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite
© Zsolnay / Hanser Literaturverlage

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Titelbild © Zsolnay / Hanser Literaturverlage

Aus dem Ruhrgebiet. Studentin der Komparatistik und der Kommunikationswissenschaften.

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