Ein außergewöhnliches Jahr liegt hinter uns. Der Kultursektor wurde einmal kräftig durchgerüttelt und in eine ungewisse Zukunft gestreut. Für viele bedeutet dies existenzielle Schwierigkeiten, viele Musiker*innen konnten geplante Projekte nicht umsetzen. Bei anderen wiederum kam es zu kreativen Hochblüten und umfangreichen Schaffensperioden. Das Jahr 2020 mag auf den ersten Blick etwas karg wirken, wenn man sich nach Neuveröffentlichungen umsieht. Für uns waren allerdings einige, auch unerwartete Blüten dabei! Dies sind die persönlichen Top Alben 2020 der Musikredaktion.
City Burials – Katatonia
Katatonia ist bei weitem kein Neuling der Metalszene, mit ihrem nun bereits elften Studioalbum. In den letzten Jahren haben sie sich stilistisch immer mehr in Richtung Progressive Metal orientiert, ohne ihrem dunklen und lyrischen, sofort wiedererkennbaren Stil untreu zu werden. Auch das aktuelle Album City Burials ist da keine Ausnahme. Es erinnert an vielen Stellen an ihr sehr beliebtes Album Dead End Kings. Die Band ist aber keineswegs stehengeblieben. Sowohl in rhythmischer Komplexität als auch in Virtuosität ist eine stetige Weiterentwicklung erkennbar. Diese unterstützen aber immer die für die Band charakteristische Stimmung, in die sich wunderbar eintauchen lässt und machen City Burials zu einem ihrer besten Alben.
Djessie Vol. 3 – Jacob Collier
Dieses Jahr beschenkt uns Jacob Collier mit dem dritten Album seiner vierteiligen Reihe Djessie. Seine unverwechselbare und einmalige Art Emotionen in Musik umzusetzen, ist aber jedesmal wieder genau so erstaunlich wie bei seinem ersten Release. Dabei geht es diesmal etwas mehr in eine popige/soulige Richtung. Sehr divers ist das Album aber dennoch. Die Art wie er komplexe Harmonie als Sprache verwendet, ohne diese in den Mittelpunkt zu stellen, sondern um die Melodie und Stimmung der Songs zu unterstützen, machen Djessie Vol. 3 zu einem unserer Top Alben 2020.
Elevator Music for an Elevated Mood und The Striped Album – Cory Wong
Cory Wong, am bekanntesten wahrscheinlich als Mitglied der Retro-Funkband Vulfpeck, war dieses Jahr besonders fleißig. Neben dem neuen Album von Vulfpeck The Joy of Music, The Job of Real Estate hat er als Solokünstler acht neue Alben veröffentlicht. Darunter zwei neue Studioalben, die wir besonders hervorheben wollen, Elevator Music for an Elevated Mood und The Striped Album. Auf letzterem sind auch Gäste wie Joe Satriani vertreten. Seine unfassbar funkige Spielweise löst sofort und unabwendbar gute Laune und Bewegungsdrang im ganzen Körper aus. Zudem sind seine Alben ein bisschen weniger dem Vulfpeck typischen Vintage-Sound verschrieben, was der Musik aber durchaus zugute kommt. Wir freuen uns sehr über dieses umfangreiche musikalische Geschenk.
Phoenix – Dirty Loops
Das Funk/Pop/Jazz Trio Dirty Loops erfreute uns im Laufe des Jahres immer wieder mit neuen Tracks, die zunächst einzeln erschienen sind. Wie auch vor ihrem ersten Release Loopifie, haben sie damit vor allem auf Youtube Aufsehen erregt. Inzwischen sind die Songs als Album mit dem Namen Phoenix erschienen. Die beeindruckende Virtuosität gepaart mit dem popigen Songwriting, jazzigen Harmonisierungen und Läufen, sowie funkigen Grooves machen einfach unheimlich Spaß beim Hören. Darum freuen wir uns enorm über Phoenix und sehnen uns jetzt schon nach mehr Dirty Loops.
Virus – Haken
So passend der Name des sechsten Studioalbums von Haken für das Jahr auch sein mag, Virus hat nichts mit Covid-19 zu tun. Der Titel stellt wohl eher eine Metapher für die Ausbreitung von Gedanken dar. Die Band hat sich mit jedem Album stetig weiterentwickelt. Während die früheren Alben sich musikalisch, wie auch auf den Sound bezogen, eher an Oldschool-Prog-Metal orientierten, haben sie spätestens mit dem letzten Album Vector, das in direktem Zusammenhang mit Virus steht, eine modernere Klangsprache gefunden. Das hängt wohl auch mit dem Produzenten Adam „Nolly“ Getgood, bekannt durch Periphery, zusammen. Haken ist aber ihrem, schon auf den frühen Alben, genialen Songwriting treu geblieben, und auch den charakteristischen Sound der Band erkennt man, trotz der beschriebenen Weiterentwicklung, leicht wieder. Das ist wohl auch der klaren Stimme ihres Sängers Ross Jennings zu verdanken. Auch die gewohnte technische Virtuosität und rhythmische Komplexität bleiben ein Charakteristikum der Band. Und sogar die Geschichte des berüchtigten „Cockroach Kings“, die sich bereits durch mehrere Alben zieht, wird auf Virus im Fünfteiler Messiah Complex fortgesetzt.
Raptus Finalus – Marten McFly
Zuerst eine kurze, wolfgang-interne Geschichte:
Anfang Oktober veröffentlicht Marten McFly mit Raptus Finalus, passend zum Beethoven-Jahr, seine Homage an diesen. Ein Redakteur, ganz aufgeregt, verfasst schon im Kopf eine Interviewanfrage, als ein Rückruf aus der Chefredaktion kommt. Marten habe Interesse gezeigt, selbst für wolfgang zu schreiben (Was nun erfreulicherweise auch der Fall ist. Den ersten Teil seiner Hip-Hop-Kolumne findet ihr hier). Dann wäre ein Interview mit ihm aber etwas seltsam. In unserem persönlichen Jahresrückblick soll jedoch Platz sein, sein Werk zu würdigen.
Sowohl musikalisch als auch sprachlich verwurstet Marten gekonnt, in aller Hip-Hop-Manier, Beethovens Erbe. Da es sich um ein Gedankenexperiment handelt – Beethoven sei nicht nach Komposition seiner berühmten 9. Sinfonie gestorben, sondern habe in seiner 10. Sinfonie Rap erfunden – ist das ganze inhaltlich nicht immer historisch exakt. Marten hat sich aber umfangreich mit Beethoven und seinem Leben auseinandergesetzt. Die wütende, pessimistische, zynische und auch öfter überhebliche Stimmung wird von den Beats wunderbar getragen. Allein wegen dem, dies alles am besten vereinenden, Track Herbst hat sich Raptus Finalus einen Platz unter unseren Top Alben 2020 verdient.
Live in London – Periphery
Die Prog-Band aus den USA hat es geschafft. Endlich gibt es ein Live-Album. Sänger Spencer Sotelos Stimme fällt auf diesem besonders auf. Die unglaublich schweren Gesangsparts lassen einen beim Zuhören zweifeln, ob sie zu schaffen sein werden. Von haarsträubend brutalen Screams zu höchsten Rock-Noten geht es sich irgendwie doch aus. Damit zeigt Sotelo, wie unglaublich intensiv extreme Musik sein kann, wenn sie, mit allem was man hat, performt wird. Auch dramaturgisch ist das Konzept-Konzert gelungen. Man wird auf eine Reise in eine düstere Welt mitgenommen, auf der aber auch Hit-Songs wie Scarlet oder Lune nicht fehlen. Mit letzterem entlässt die Band das gröhlende Londoner Publikum. Beim Albumhörer kommt dabei Sehnsucht nach einer Zeit auf, in der solche Sternstunden des Live-Genusses wieder möglich sein werden.
Live Vol. 1 – Parcels
Live-Alben nerven. Die Ansprachen der Künstler*innen machen ohne Kontext wenig Sinn. Das einzige was man von der Stimmung mitnimmt, ist der besoffene Offenbacher, der neben dem Crowd-Mikro gestanden ist und ununterbrochen vom Sound des Schlagzeugs schwärmt. Aber die Parcels haben es irgendwie geschafft, ein cooles Live-Album zu produzieren. Es ist nämlich ein Studioalbum. Die Idee war, ihr Live-Set in einem altmodischen Studio aufzunehmen, ohne die Zaubertricks der modernen Pop-Produktion. Nur eine Band, ein paar Mikrophone und ein Mischpult. Es groovt wie gewohnt, es ist unvollkommen, es ist lebendig. Live Vol. 1 erzeugt das Gefühl, die Parcels live zu hören, ohne einen aufgenommenen Applaus am Ende, der einem unter die Nase reibt, dass man alleine in seiner Wohnung tanzt. Gerade in Zeiten von Lockdowns und Social Distancing, in der Konzerte abgesagt, oder nur mit sitzendem Publikum zugelassen sind, schenkt dieses Album ein bisschen Trost. Es erinnert an die Schönheit und Unersetzbarkeit von Live-Musik, ohne dabei nur eine Erinnerung an einen Abend zu sein.
Love Hate Fear Fate – Spitting Ibex
Spitting Ibex haben ihr erstes Album mit ihrer neuen Sängerin Aunty Anfang des Jahres releast. Es ist funky, es ist progressiv, es ist retro, es ist am Zahn der Zeit. Das Album spaziert durch fast jedes Genres der Soul-Musik und hat dabei dennoch einen unverwechselbaren Sound. Wer mehr darüber wissen will: Hier findest du unser Interview mit ihnen.
Silk Wave – Koan Sound
Koan Sound ist ein britisches Electronic-Music Duo, das vorallem durch ihr Album Polychrom 2018 unsere Aufmerksamkeit geweckt hat. Ein ganzes Album ist es dieses Jahr leider nicht geworden, aber die EP Silk Wave mit vier Tracks knüpft, wie schon die EP Intervals Above, musikalisch an ihr letztes Album an. Mit groovigen Drum ’n‘ Bass-Beats und Dubstep-artigem Sounddesign, sowie sehr musikalischem Aufbau und Arrangement, schaffen sie eine einzigartige Klangerfahrung, die sowohl als coole Nebenbeistimmung funktioniert, als auch zum tiefen Eintauchen und zum Entdecken immer wieder neuer, gefinkelter musikalischer Kleinigkeiten einlädt.
Van – Clown Core
Das neue Clown Core Album ist wieder nach dem Ort benannt, an dem es aufgenommen wurde. Dieses Mal ist es ein Van.
Wer es noch nicht erraten hat, es klingt nicht sonderlich gut. Unter dem aggressiven Schlagzeug, den ätzenden Synthsounds und dem schreienden Saxophon brummt leise der Toyota Previa. Es verfolgt bei einer Gesamtlänge von 17 Minuten auf zwölf Songs auch nicht wirklich eine deutbare Dramaturgie. Sowohl die Musik als auch die Videos lassen sich am ehesten als ekelhaft beschreiben und genau deswegen macht es richtig Spaß es anzuhören. Luis Cole und Sam Gendel sind außergewöhnliche Virtuosen und richtungsweisend für modernen Funk und Jazz. Dass sie viel geübt haben, zeigen sie in Van auch sehr eindrucksvoll. Ist es schlechte Musik, nur weil es unangenehm ist? Oder ist es sogar hervorragend, weil das Duo es schafft, diese Emotionen präzise zu verursachen? Van ist ein bisschen das musikalische Äquivalent zu einem Horrorfilm. Harter Tobak, aber faszinierend und unterhaltsam.
What Kinda Music – Tom Misch, Yussef Dayes
Alle lieben Tom Misch. Seine Musik ist authentisch, chillig, catchy und in jeder Neo-Soul Playlist. Aber auch, wenn man sich an ihm bereits sattgehört hat, ist What Kinda Music definitiv eine Hörempfehlung. Die Collab mit Yussef Dayes hat den sonst sehr gitarristischen Sound ein bisschen unter Kontrolle gebracht und den Fokus mehr aufs Schlagzeug gelenkt. Das verleiht Tom Mischs Stil einen frischen, ungewohnten Anstrich, der das Album deutlich von seiner bisherigen Arbeit abhebt, aber keine Abstriche bei seinem Songwriting macht.