Bei einem Hilfseinsatz in Rumänien kommt ein Mann ums Leben – ein Unfall, wie es zunächst scheint. Paul Ferstls neuer Roman deckt Schicht für Schicht das Leben junger Männer im Auslandszivildienst auf.
Mit dem russischen Invasionsangriff loderte sie in Deutschland wieder auf: die Diskussion um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Es war mein Jahrgang, der damals noch zur Musterung gehen, aber den Dienst dann letztlich nicht antreten musste. Davor hieß die Wehrpflicht für die meisten: Zivildienst oder Freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr. Was es für die wenigsten hieß: Auslandsdienst. Diese Form von Wehrdienstverweigerung ist auch in Österreich nicht sehr verbreitet, aber doch etwas bekannter. Zwölf Monate, länger also als der Inlandszivildienst, dauern diese Einsätze, sie können die Form von Gedenk-, Friedens- oder Sozialdiensten annehmen. Von einem solchen sozialen Dienst in Rumänien erzählt Paul Ferstls neuer Roman Das Grab von Ivan Lendl. Das Buch beginnt zwar mit dem Tod des titelgebenden Ivan, es steigt zwar mitten in der Handlung ein, aber dennoch ist dieser Anfang die äußerste Schicht einer ganzen Reihe von Schichten, in deren Kern etwas Tiefergehendes schlummert. Das macht es vielleicht auf den ersten Seiten schwieriger einzusteigen, aber gemeinsam mit Ivans Schwester, die nach Rumänien kommt, um mehr über die Hintergründe des Todes zu erfahren, begeben wir uns auf eine Reise – nicht nur quer durch Rumänien, Österreich oder die Ukraine, sondern auch hin zu dem, was so ein Auslandsdienst bedeuten kann: der Prozess des Erwachsenwerdens junger Männer, die sich plötzlich an einem völlig fremden Ort mit großen Aufgaben, neuen Herausforderungen und neuen Lebensrealitäten wiederfinden.
Hauptfigur des Romans ist der 19-jährige Pich, der auch in dem Projekt im Einsatz war, bei dem Ivan ums Leben kam. In diversen Rückblenden werden sein Weg nach Rumänien, seine ersten Aufträge, die Begegnungen mit anderen, alten und jungen Zivildienern erzählt; es wird viel Eintopf gegessen und viel Bier getrunken. Und dazwischen immer wieder: lange, lange Autofahrten durchs Land. Pich begegnet Dingen, an denen er sehr schnell wachsen muss, er bekommt von einem Tag auf den anderen Verantwortungen, mit denen er schneller umgehen muss, als möglich ist. All diese Situationen aus dem Jahr werden begleitet von dem Hauptstrang: Pich und Ivans Schwester auf den Spuren des Lebens, das Ivan in Rumänien führte, zwei fremde Menschen in ein Auto geworfen, mit einer Mission, deren Folgen sie kaum abschätzen können und die noch komplizierter wird, als ein Zivildiener im Norden Rumäniens Selbstmord begeht. Ferstl erzählt die Beziehung zwischen den beiden sehr nuanciert und seine Dialoge sind so auf den Punkt gebracht, dass sie einen direkt in die alten siebenbürgischen Häuser oder auf die Rückbank des Autos katapultieren. Und dort breitet sich nach und nach aus, was Pich Ivans Schwester verschwiegen hat. Eine packende, turbulente und nicht zuletzt informative Geschichte über Verantwortung und Ohnmacht.
Weitere Informationen
Hier gehts zum Buch! Im Milena Verlag ist außerdem Paul Ferstls Roman Fischsitter erschienen, mehr Infos findet ihr hier.
Mehr Infos über den Autor gibt es auf seiner Webseite.
(c) Titelbild: Theresa Wey
Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.