In der Nacht von Montag auf Dienstag hängten sich junge Afghan*innen an die letzten Flugzeuge, die vom Hamid Karzai Flughafen in Kabul aus Afghanistan flogen. Etliche fielen in den Tod, zurück in ein Land, das nicht mehr so sein würde, wie es vorher war. Die Taliban sind nach Abzug der amerikanischen Truppen durch Präsident Joe Biden in rasanter Geschwindigkeit bis nach Kabul vorgerückt und sind jetzt dabei, eine Regierung zu bilden.
Der Grund zum Fluchtversuch ist naheliegend: Man erinnert sich an das Taliban-Regime des Terrors in den 90er-Jahren, in dem Frauen unter Hausarrest gestellt wurden und systematisch Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Laut Berichten der UN durchquerten Taliban-Soldaten mit Macheten afghanische Dörfer, mit denen sie Kehlen aufschlitzten und Menschen häuteten.
Der Kalte Krieg in Afghanistan
Um zu beantworten, warum der amerikanischen Außenpolitik bereits geflossenes und zukünftig fließendes Blut an den Händen klebt, muss man einen Sprung in die Zeit des Kalten Krieges tätigen. Nach der Saurrevolution 1978 rief die kommunistische DVPA mit sowjetischer Unterstützung die Demokratische Republik Afghanistan aus. Zwangsehen wurden verboten, es gab Religionsfreiheit in einem ethnisch hoch differenzierten Land, das öffentliche Gesundheitswesen wurde aufgebaut und die Schulpflicht, vorallem auch für Mädchen, wurde eingeführt. Neben einigen fundamentalistischen Moslems im Land gefiel diese Modernisierung vor allem den USA nicht. Gemeinsam mit Saudi-Arabien und Pakistan, die in den Reformen die Gefahren für den politischen Islam witterten, finanzierten die USA, die eine Welt fern des Kapitalismus fürchteten, islamistische Guerillakämpfer: die Mudschahedin. Das geschah mit etlichen Milliarden Dollar an Aufrüstungsgeldern und – von den USA produzierten – gewaltverherrlichenden Schulbüchern, die den Kindern schon früh den Heiligen Krieg heilig machen sollten. Als die USA nach dem Sieg gegen die Kommunisten 1992 die Unterstützung einstellten, entfachte sich ein jahrelanger Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Fraktionen der Mudschahedin.
US-Amerikanische Kinderbücher
Ein Machtvakuum tat sich auf, das die Taliban, die eine Ausweitung der früheren Mudschahedin darstellen, mit der gewalttätigen Machtübernahme 1996 füllten. Die Taliban, die vorgestern Afghanistan zum wiederholten Male unter ihre Kontrolle gebracht haben, benutzten die in Amerika hergestellten Kinderbücher zur Radikalisierung der eigenen Jugend. Nach der Attacke vom 11. September 2001 bekam die USA das grüne Licht zur Invasion von Afghanistan. Innerhalb weniger Monate wurden die Taliban zu Boden gerungen. US-Amerikanische Truppen sollten 20 Jahre lang vor Ort sein und in dieser Zeit beschützten sie die afghanische Oberfläche. Der Untergrund von Afghanistan blieb jedoch den Taliban überlassen. Die Geldtransfers der USA konzentrierten sich auf die Großstädte. Die überwältigende Mehrheit der afghanischen Bevölkerung in den ländlichen Provinzen ist in den letzten zwei Jahrzehnten ärmer geworden. Heute lebt über die Hälfte unter der Armutsgrenze. Die Armut stellte sich als hervorragender Nährboden für die Taliban heraus, die es schafften, mit einer parallelen Wirtschaftsordnung und amerikanischer Islam-Propagandaheftchen heranwachsende Soldaten für einen Krieg gegen die Eliten und für den Islam zu begeistern. Auch von der Elite bekam die islamistische Terrorgruppe jedoch leise Legitimation: Pervez Musharraf, Präsident bis 2008 und von den USA unterstützt, sagte einst, die Taliban seien „unsere Brüder“. Eine außenpolitische Peinlichkeit jagt die andere.
Flucht aus der Verantwortung
Jetzt zog sich Joe Biden aus einem Gebiet zurück, weil die USA sich nicht in die Bürgerkriege anderer Länder einmischen wollen. Egal, in welchem Maße die USA ihre Finger bei der Gründung der Taliban auch im Spiel hatten, aktuell bräuchte es US-amerikanische Truppen am Boden von Afghanistan, um die Zivilbevölkerung vor einem radikalen Regime, das Menschenrechte mit Füßen tritt, zu schützen. 20 Jahre, zwei Billionen Dollar, 50.000 afghanische Zivilist*innen und 3.500 getötete amerikanische Soldat*innen nach der Invasion 2001 später, sowie ein paar mickrige Tage ohne die Taliban, fabriziert Joe Biden mit dem Abzug der Truppen die letzte und größte Peinlichkeit seiner Außenpolitik. Afghan*innen sowie Amerikaner*innen, die Freunde und Familie in diesem Krieg verloren haben, könnten zurecht erschüttert sein über die Entscheidung Bidens. In anderen Ländern, in denen Groll gegen amerikanischen Interventionismus gehegt wird, kann der Triumph der Taliban und die außenpolitische Unfähigkeit der USA einen fundamentalistisch-revolutionären Funken überspringen lassen. Wir können nur darauf hoffen, dass die Büchse der Pandora in Afghanistan nicht geöffnet wurde. Diese Schmach könnte Präsident Biden noch heimsuchen.
Titelbild: Mohamed Rahmani