Es ist ein Privileg, unpolitisch zu sein. Es ist schlichtweg ein Luxus, sich nicht politisch äußern zu müssen. Unsere Demokratie schützt uns davor – nimmt es uns ab. Der politische Apparat und das System funktionieren, ob wir uns im Ortsverband engagieren oder nicht. Doch in Zeiten des Krieges wird alles politisch und Schweigen ist keine Option.
In der antiken Polis in Griechenland gab es seinerzeit die Herrschaftsform Demarchie. Dort wurde Regierung und Volksvertretung durch das Losverfahren und nicht durch Wahlen bestimmt. Heute wäre das eine unvorstellbare Utopie. Von der Bäckerin zur Präsidentin, vom U-Bahn-Fahrer zum Außenminister. Per Los und über Nacht.
Wir dürfen die Verantwortung abgeben, an „die da oben“ und unsere despektierlichen Kommentare dazu machen. Doch in Zeiten des Krieges verändert sich alles. Ein Comedian wird zu einem Präsidenten im Krieg, wenn auch nicht per Los und nicht über Nacht. Ein ehemaliger Boxweltmeister und Multimillionär muss als Kiews Bürgermeister eine MG in der Hand halten und keine Milchschnitten mehr. Er trägt Schutzweste und wird zehn Jahre nach seinem letzten Kampf wieder Blut an den Händen haben. Mit dieser surreal wirkenden Veränderung verschwindet auf einmal auch das Sonderrecht zu schweigen. Alles wird politisch. Kunst, Sport, sogar Backwaren und Cocktails. Jede Nichtaussage wird zum Statement, jedes Schweigen ein lauter Schrei.
Wenn die Opernsängerin Anna Netrebko erklärt, unpolitisch zu sein, ist das okay. Es sei dahingestellt, ob sie es jemals war. Kunst muss nicht politisch sein. Sie muss es nun aber werden, wenn Millionen Ukrainer*innen unverschuldet aus ihrer Heimat fliehen. Aus ihrem Land, das niemals wieder so sein wird wie zuvor. Wenn nicht nur Militäreinrichtungen bombardiert werden, sondern auch das kulturelle Herz des Landes. Museen, Theater und Opernhäuser. Es geht weniger um politische Äußerungen, sondern um gesunden Menschenverstand. Es geht darum, den Krieg eines einzelnen Mannes zu verurteilen und alles in unserer Macht Stehende zu tun, um einen kleinen Beitrag zum Frieden zu leisten. Seien es Spenden, Solidaritätsbekundungen oder gar billige Symbolik wie blau-gelbe Profilbilder auf Instagram. Auch ein Statement von Netrebko wird Putin nicht stoppen, kein Zupfkuchen, der jetzt nicht mehr russisch ist oder ein Moscow Mule, der nun aus Kiev kommt.
Es geht aber darum, den Druck zu erhöhen. Vor allem auf die russische Bevölkerung. Denn wie es Sokrates schon sagte: „Es ist leicht, in Athen die Athener zu loben“, oder eben auch in Wien gegen Putin zu sein. Wieder müssen wir wie all die Jahre zuvor nicht viel tun. Keine Embargos aushandeln, keine Waffenlieferungen abwickeln und schon gar keinen Krieg führen. Wieder ist es fast so wenig, wie ein kleines Kreuzchen auf dem Wahlzettel zu machen. Woran aber kein Weg vorbeiführt, ist, unsere Stimme zu erheben. Vor allem, wenn sie so schön und laut ist wie die Netrebkos. Tun wir oder sie das nicht, müssen wir Konsequenzen ziehen. Wir müssen russische Engagements absagen und Künstler*innen, die sich nicht ausreichend distanzieren, canceln. Vom Aktionismus getrieben, rennt man hiermit zurecht offene Türen ein, während die Russ*innen in ihrem Land vor geschlossenen schwedischen oder französischen stehen. Keine Billy Regale, keine Hermès Taschen. Absurd wirkende Maßnahmen. Aber wie das Garage Museum für zeitgenössische Kunst in Moskau so treffend sagte und damit die Schließung ihrer laufenden Ausstellungen rechtfertigt: „Man kann nicht die Illusion von Normalität wahren, während derartige Ereignisse stattfinden.“
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