In den USA steht das Recht auf Abtreibung zunehmend auf wackligem Fundament. Die Ernennung der erzkonservativen Amy Coney Barrett zur Höchstrichterin zementiert einen Rechtsruck im Supreme Court, der die Gesetzgebung der USA auf Jahrzehnte prägen wird. Auf dem Spiel stehen Gesundheit und Freiheit von Millionen Amerikaner*innen.
Eine Schwangerschaft – ungewollt. Die Freiheit, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, diktiert durch restriktive Gesetzgebungen im Land. Mangelnde Unterstützung, lückenhafte Information, ohne Zugang zu Möglichkeiten eines legalen und sicheren Abbruchs. Angst, keinen Ausweg aus dieser Situation zu finden, vor dem Stigma und Urteil des gesellschaftlichen Umfelds, den rechtlichen Sanktionen. Keine Mitsprache darüber, was mit dem eigenen Körper geschieht.
Es ist kaum möglich, sich in eine solche Situation hineinzuversetzen. Das Recht auf Abtreibung stellt für viele von uns einen Teil des Selbstverständnisses einer modernen demokratischen Gesellschaft dar. Wie fragil dieses Recht aber ist, auf das wir unsere körperliche Autonomie und Entscheidungsfreiheit bauen, zeigt sich aktuell auch in den USA. Warum der Kampf um sexuelle und reproduktive Rechte auch noch nicht gewonnen ist.
Was ist passiert?
Am 27. Oktober wurde die konservative Richterin Amy Coney Barrett mit einer knappen Entscheidung von 52 zu 58 Stimmen in den US Supreme Court einberufen. Barrett trat damit die Nachfolge der im September verstorbenen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg an. Durch vielerlei Stimmen als feministische Ikone und Leitfigur liberaler Rechtsprechung geachtet, bereitete Ginsburg den Weg für moderne Bürger*innenrechte und Gleichstellung der Geschlechter.
Die Intensität mit der Trump die Ernennung seiner neuen Höchstrichterin so knapp vor den Präsidentschaftswahlen durch den Auswahlprozess peitschte, sorgte unter Demokraten und in breiten Teilen der Zivilbevölkerung für massive Proteste. Sie sehen die Unabhängigkeit höchstrichterlicher Entscheidungen in Bürgerrechtsfragen in Gefahr. Mit der Nominierung von Barrett widersetzte sich Trump außerdem dem letzten Willen von Ginsburg, ihre Nachbesetzung bis nach der der Amtseinführung des (möglicherweise) neuen Präsidenten aufzuhalten.
Was den Supreme Court so mächtig macht
Es ist ein immenses Gewicht, das die Machtverschiebung im Supreme Court im Kampf um sexuelle und reproduktive Rechte einzunehmen droht. Vor allem in bürgerrechtlichen Grundsatzentscheidungen, wie der Aufhebung der Rassentrennung, der Gewährung gleichgeschlechtlicher Ehe oder dem Recht auf Abtreibung, zeigte sich das höchstrichterliche Urteil in der Vergangenheit maßgebend.
Insgesamt drei Höchstrichter*innen konnte Trump während seiner Amtszeit für eine Position auf Lebenszeit im Supreme Court einberufen und diesen damit ideologisch auf seine Linie bringen. Ganz im Sinne seines Wahlversprechens, dem Recht auf Abtreibung den Kampf anzusagen. Durch die gezielte Schwächung des liberal-konservativen Gleichgewichts im Supreme Court hat Trump dafür gesorgt, dass seine menschenrechtsfeindliche Politik noch für die nächsten Jahrzehnte nachhallen wird.
Ein Ende des Rechts auf Abtreibung?
Bei der Roe v. Wade – Entscheidung von 1973 handelte es sich um ein wegweisendes höchstgerichtliches Urteil für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den USA. In der historischen Entscheidung bestätigte der Supreme Court die Verfassungswidrigkeit der Kriminalisierung von Abtreibung im Sinne des Rechts auf Privatsphäre.
Seit Jahrzehnten versuchen konservative Kräfte, das Recht auf Abtreibung auszuhöhlen. Immer wieder werden von einigen Staaten Gesetzesvorschläge vor das Höchstgericht gebracht, mit dem Ziel, ein Urteil zu provozieren, das die Roe v. Wade Entscheidung nichtig machen würde.
Auch in diesem Jahr wurde ein Gesetz aus Louisiana durch den Supreme Court blockiert, welches die Zahl der Abtreibungskliniken im Staat auf eine einzige reduziert hätte. Mit Amy Coney Barrett zieht nun eine bekennende Abtreibungsgegnerin in das höchste Gericht der USA ein, welche in der Auslegung der Verfassung keinen Spielraum für moderne Interpretation lassen möchte. Es ist fraglich, wie lange die Roe v. Wade Entscheidung mit einer Mehrheit von sechs konservativen gegenüber drei liberalen Richter*innen noch Bestand hat.
Bereits im November könnte die konservative Machtverschiebung fatal sein, wenn im Supreme Court über die Zukunft des Affordable Care Acts entschieden wird. Die unter Obama eingeführte Gesundheitsreform brachte eine Ausweitung der gesetzlichen Krankenversicherung, welche auch die Abdeckung von Verhütungsmitteln, Mutterschaftsvorsorge, sowie die Prävention und Behandlung sexuell übertragbarer Infektionskrankheiten inkludierte. Im schlimmsten Fall könnte das Urteil den Wegfall des Versicherungsschutzes für Millionen von Amerikaner*innen bedeuten und drastische Folgen für die sexuelle und reproduktive Gesundheit haben.
Es geht auch um Gerechtigkeit!
Die Debatte über reproduktive Rechte lässt sich nicht ohne die Frage nach reproduktiver Gerechtigkeit führen. Restriktive Gesetzgebungen, die sexuelle und reproduktive Rechte beschneiden, betreffen vor allem jene Menschen, welche bereits jetzt strukturell diskriminiert und unterdrückt werden.
Während der Mehrheit der westlichen Welt weiterhin ein Privileg im Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen und umfassender Gesundheitsvorsorge zukommt, sind es Personen aus finanziell benachteiligten Schichten sowie LGBTIQ* und BIPOC, die sexuelle und reproduktive Gesundheitsrisiken übermäßig tragen und durch staatlichen Zwang und Kontrolle in ihrer körperlichen Entscheidungsfreiheit bevormundet werden.
Auch dahingehend zeigt sich die Ernennung Amy Coney Barretts als Rückschlag für Gleichheit und Gerechtigkeit in den USA. Die Restriktion der Abtreibungsgesetzgebung stellt einen Angriff auf Menschenrechte dar und muss mit allen Mitteln verhindert werden. Umso mehr braucht es jetzt eine lautstarke Zivilgesellschaft, die ihre Freiheit verteidigt. Der Kampf um das Recht auf Abtreibung ist noch nicht gewonnen – in gewisser Weise hat er gerade erst angefangen. Es geht hier nicht um eine formale Gesetzesentscheidung, sondern um das Ende eines Herrschaftsverhältnisses.